BRIEF_KASTEN
Im Gasthaus strecke ich die Speisekarte so weit von mir weg, dass sie bald beim Nachbartisch liegt. Beim Einkaufen kneife ich angestrengt die Augen zusammen, um zwischen den Regalen überhaupt noch zu erkennen, ob ich gerade vor den Nudeln oder dem Katzenfutter stehe und wie viel die Sachen kosten.
Die Liste dieser Momente könnte ich endlos fortsetzen – aber das wäre dann doch zu deprimierend, also lasse ich es lieber. Ein bisschen erinnert mich das Ganze an meine Jugendzeit, als ich kurzsichtig wurde. Damals, bevor ich auf Kontaktlinsen umstieg, war ich zu eitel, ständig eine Brille zu tragen.
Zum Beispiel beim Fußballspielen – wo ich meistens eigensinnig spielte und selbst den Torabschluss suchte, statt zu jemandem zu passen, der besser stand. Wer Mit- oder Gegenspieler waren, konnte ich kaum sehen. (Gut, um ehrlich zu sein: Ich wollte sowieso immer selbst das Tor schießen.) Und jetzt also die Altersweitsichtigkeit. Das Auge wird von Jahr zu Jahr träger und man kann nichts dagegen tun. Nicht nett von der Natur.
Aber zum anderen hat das Ganze auch etwas Tröstliches: Früher oder später erwischt es uns alle, und man redet so oft über Gleitsichtbrillen wie sonst nur über das Wetter. Man hat quasi immer ein passendes Smalltalk-Thema, vorausgesetzt, das Gegenüber ist über 40. Außerdem: Mit ein bisschen Abstand sieht vieles besser aus. Nur blöd, dass das auf das Preisschild nicht zutrifft.
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