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Doch für den großen Schlussakkord fehlt die Zeit. Der Rest ist – offenes – Schweigen.
Am 18. Dezember 1892 steht Anton Bruckner am Ausgang des Wiener Musikvereinsgebäudes mit 48 dampfenden Krapfen. Er wartet auf Hans Richter, den Dirigenten, der eben Bruckners Achte Symphonie zur erfolgreichen Erstaufführung gebracht hat. Gemeinsam mit ihm will er die Krapfen verzehren.
Die grandiose Uraufführung der Achten zeigt Bruckner auf dem Höhepunkt seiner Karriere: Seine Symphonien sind in den Konzertsälen „angekommen“. 1891 ist der Ansfeldner Meister zum Ehrendoktor der Universität Wien promoviert worden.
Der Kaiser, dem die Achte gewidmet ist, unterstützt Bruckner ebenso finanziell wie der Oberösterreichische Landtag sowie Freundeskreise in Oberösterreich und Wien. In diesen Jahren beendet er seine Unterrichtstätigkeit am Konservatorium (1891) und seinen Dienst bei der Hofkapelle (1892). Im November 1894 hält er eine letzte Vorlesung an der Universität Wien.
All das lässt die Zeit als optimal für die Entstehung der Neunten Symphonie erscheinen. Aber dieser Freiraum kommt spät: Ab etwa 1890 lässt die Gesundheit des Oberösterreichers nach. Phasen schwerer Erkrankung wechseln sich ab 1892 mit guten Zeiten ab. Bruckners Hauptleiden ist Wassersucht (Ödeme) verbunden mit Herzinsuffizienz.
Das alleine erklärt freilich nicht, warum es Bruckner zwischen September 1887 und seinem Tod am 11. Oktober 1896 nicht gelingt, seine letzte Symphonie voll instrumentiert zu beenden. Er unterzieht die Symphonien 1 bis 4 Überarbeitungen.
Auch die 1887 vollendete Achte wird 1892 nicht in ihrer ersten Form, sondern in einer Zweitfassung (1890) uraufgeführt. Daneben komponiert Bruckner andere Musikstücke: das „Deutsche Lied“, „Helgoland“, den „150. Psalm“ und „Vexilla regis“.
Es ist gemutmaßt worden, Bruckner habe sich – wie später Mahler – vor der Vollendung der Neunten Symphonie gefürchtet, da Beethoven nach seiner Neunten gestorben ist.
Von links: Arzt Dr. Heller, Kathi Kachelmaier, Anton Bruckner, sein Bruder Ignaz und Arzt Professor Schroetter.
Letztlich ist aber klar: Bruckner will seine Neunte Symphonie abschließen, insbesondere ab dem Zeitpunkt, da er merkt, dass es sein letztes Werk werden würde.
Am Ende seiner Vorlesungstätigkeit 1894 berichtet er seinen Studenten an der Universität, dass er drei der vier Sätze bereits vollendet habe – nur im dritten Satz sei noch etwas Arbeit übrig. Die Vollendung des Finales aber wird zu einem Wettlauf mit der Zeit.
Die äußeren Daten sind bekannt: Anfang Dezember 1894 erkrankt Bruckner so schwer, dass ihm die Ärzte wenig Chancen einräumen, seine Arbeit fortsetzen zu können. Doch der Komponist rappelt sich wieder auf. Nachweislich am 24. Mai 1895 beginnt er mit der Komposition des Finales.
Unterdessen wird klar, dass die Wohnung im vierten Stock der Wiener Heßgasse 7 für Bruckner nicht mehr passt. Über Erzherzogin Marie Valerie, der Tochter von Kaiser Franz Joseph I., wird ihm eine große, ebenerdige Wohnung im Kustodenstöckel des Schlosses Belvedere in Wien zugeteilt, die er im Juli 1895 mit seiner Wirtschafterin Katharina Kachelmayer bezieht.
Die Parkanlagen direkt vor der Türe bieten ihm Frischluft ohne große Anstrengungen. Wieder wechseln sich bessere und schlechtere Phasen ab.
Noch bis in den Sommer 1896 arbeitet der Komponist am letzten Satz seiner letzten Symphonie. Daneben ist er kein einfacher Patient. Als ihm bedeutet wird, er könne vorsichtig wieder Fleisch essen, will er gleich Geselchtes mit Knödeln.
Als ihm der Arzt sagt, so sei das nicht gemeint, erwidert der Oberösterreicher, wenn er kein Geselchtes bekomme, wolle er lieber gleich beim Kakao bleiben. Dass Frau Kathi streng mit Bruckner sein muss, trägt ihr die Bezeichnung „Hauskorporal“ ein.
Es besteht aber keinerlei Zweifel darüber, dass die Dienste Kachelmayers und der Ärzte Bruckner ein würdiges Ende ermöglichen. Denn insbesondere in der finalen Phase ab Sommer 1896, als eine Lungenentzündung hinzukommt, gab es Zeiten der Verwirrtheit.
Die Geschichte, dass Anton Bruckner bis zum allerletzten Tag an der Vollendung seiner Neunten Symphonie gearbeitet hat, ist wenig glaubwürdig.
Der 11. Oktober 1896 ist ein Sonntag. Noch zu Mittag schaut ein Arzt zur Visite bei Bruckner vorbei und findet ihn in keinem besorgniserregenden Zustand.
Gegen drei Uhr nachmittags klagt Bruckner, ihm sei kalt, und verlangt Tee. Frau Kathi rät ihm, ins Bett zu gehen. Als sie den Tee bringt, kann Bruckner nur mehr davon nippen. Er legt sich auf seine linke Seite, tut zwei Atemzüge und stirbt. So beschreiben die Biografen Göllerich und Auer Bruckners Tod.
Was fehlt, ist ein letztes Wort – im direkten und um übertragenen Sinn. Dass der Mensch Anton Bruckner nicht mit einer tiefgründigen Bemerkung von der Welt schied, fügt sich in sein Leben. Gesprochene Worte waren nicht sein Metier.
Was Bruckner zu sagen hatte, hat er in seiner Musik gesagt. Doch auch hier fehlt das letzte Wort: Das Finale der Neunten Symphonie ist weit gediehen, aber nicht fertig.
Dass der dritte Satz, das Adagio, das heute die meisten Aufführungen von Bruckners Neunter beendet, still und – nach verzweifelten und erschütternden Stellen – versöhnt endet, haben manche als passend empfunden. Das verschleiert aber, dass das Werk, so wie wir es heute zumeist hören, nicht Bruckners Absicht entspricht.
Es ist gut dokumentiert, dass er als Notlösung für den Fall, dass er das Finale nicht beenden würde, vorgesehen hat, an dessen Stelle sein „Te Deum“ aufzuführen.
Es ist, wenn auch nicht unhinterfragt, belegt, dass Bruckner die Neunte „dem lieben Gott“ widmen wollte. Auch wenn das vielleicht nicht die ursprüngliche Absicht war, passt es doch zu der Geschichte, die Richard Heller, einer der Ärzte Bruckners, erzählte: Demnach hatte Bruckner die Vorstellung, mit Gott einen Kontrakt abgeschlossen zu haben. Wenn Gott wolle, dass die ihm gewidmete Symphonie fertig werde, müsse er Bruckner entsprechend lang leben lassen.
Damit wird die Frage nach Bruckners Glauben eröffnet: Wann, wenn nicht im Angesicht der Ewigkeit, ist diese Frage aktuell?
Es könnte sein, dass Bruckner nur „der religiösen Praxis seiner Zeit entsprechend“ religiös war, wie Elisabeth Theresia Hilscher in der Theologisch-praktischen Quartalsschrift argumentiert.
Aber das bedeutet nicht, dass seine Symphonien ohne religiösen Hintergrund wären.
Hat er im Adagio der Neunten das „Misere (Erbarme dich)“ aus seiner f-moll-Messe aus rein musikalischen Gründen zitiert? Hat es nur musikalische Gründe, dass auch die d-Moll-Messe und das „Te Deum“ dort zitiert werden?
Der Musikschriftsteller Wolfgang Stähr schreibt: „Man muss nicht soweit gehen und aus jeder Zweiunddreißigstelnote, die Bruckner niedergeschrieben hat, ein Glaubensbekenntnis heraushören zu wollen, um dennoch klar zu erkennen, dass Bruckners Symphonik gar nicht anders verstanden werden kann denn als religiöse Musik.“
Zum Finale der Neunten hat der Musikwissenschaftler Constantin Floros geschrieben, dass es einen Verweis zum ersten Satz der Achten enthält: In der zweiten Fassung ist dort am Satzende die von Bruckner so bezeichnete „Totenuhr“ zu hören: „Dös is so, wie wenn einer im Sterben liegt und gegenüber hängt die Uhr, die, während sein Leben zu Ende geht, immer gleichmäßig fortschlägt.“
Der Tod ist Mysterium, eine Herausforderung auch für Nichtglaubende. Zurecht heißt es, dass die Neunte Symphonie Momente der Todesangst enthält. Ist sie also Zeugnis der „Erschütterung weltanschaulicher Gewissheiten“, wie der Musikwissenschaftler Hans-Joachim Hinrichsen schrieb?
Vielleicht ist die Neunte einfach nur ehrlich: Auch die allergläubigsten Menschen kennen die Angst vor dem Tod. Die Nachwelt hält das Finale von Bruckners Neunter nicht vollständig in Händen (auch wenn weniger fehlt, als man denken würde). Es fehlt das letzte Wort.
Aber indem Bruckner auf die Notlösung des „Te Deums“ verwiesen hat, benennt er seine Hoffnung: „In te, Domine, speravi – non confundar in aeternum.“ (Auf dich, Herr, habe ich meine Hoffnung gesetzt – in Ewigkeit werde ich nicht untergehen.“)
Mit diesem vierten Teil endet der biografische Überblick.
von KiZ-Chefredakteur Heinz Niederleitner
Biografie Bruckners - Teil 1
Biografie Bruckners - Teil 2
Biografie Bruckners - Teil 3
Biografie Bruckners - Teil 4
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