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Es gibt viele Menschen, die an Panikattacken, Schlafstörungen oder Depressionen leiden, ohne dass ein Grund dafür erkennbar ist. Erst bei der Aufarbeitung der Familiengeschichte wird man dann fündig: Die Eltern waren Kriegskinder und konnten über ihre erlittenen Traumata nie reden. Die schlimmen Erlebnisse waren auf Eis gelegt, kein Thema und doch irgendwie da. Und sie haben sich in den Genen verewigt, wurden damit an die nächste Generation vererbt.
Die Erkenntnis, dass Gene nicht fix sind, sondern sich durch Erlebtes verändern, ist relativ neu. „Es ist biologisch kompliziert, aber bewiesen, dass sich erlittene Traumata, die nicht aufgearbeitet worden sind, bei den Kindern oder Enkeln über Gene wiederfinden können. In welcher Form, das hängt von den einzelnen Persönlichkeiten ab“, schildert Eva Gütlinger. Mit diesem neuen Wissensstand ist es auch leichter erklärbar, warum schon alte Völker oft Angst vor ihren Ahnen hatten. „Irgendwie hat man die negativen Energien gespürt, aber natürlich nicht erklären können. Auch die alte Tradition, die Vorfahren zu würdigen und gut zu stimmen, hängt wohl damit zusammen“, vermutet Gütlinger.
Ob es nun Fähigkeiten und Talente oder Belastungen sind, die man im Lebensmuster mitbekommen hat: Man kann sie nicht einfach wegradieren. Aber man kann versuchen, Schweres zu heilen, und sich selbst ins Positive entwickeln. „Es ist überhaupt ganz unterschiedlich, ob und wie sich Dinge aus der Vergangeheit auf eine Person auswirken. Da gibt es kein wenn-dann. Es kann aber über Generationen zurückreichen“, das sei gesichert. Für Eva Gütlinger haben auch die Reaktionen auf die Flüchtlinge in Österreich etwas mit den Kriegs- und Fluchterfahrungen der Vorfahren zu tun. Vor allem die radikale Ablehnung könnte da verwurzelt sein.
„Alle eigenen Probleme nun an die Vorfahren abzugeben, ihnen die Schuld zu geben, damit mache ich die Situation nicht besser“, ist Gütlinger überzeugt. Statt Selbstmitleid zu pflegen, rät sie, an sich zu arbeiten. Darüber hinaus die Ahnen zu würdigen könne auch heilend sein.
Wer sind meine Vorbilder? Wen hätte ich gerne in meiner Ahnenreihe? Wem möchte ich nachfolgen? „Wenn wir uns selber Ahnen suchen, hat das natürlich nichts mit unseren Genen zu tun. Aber es hat eine Auswirkung auf unser Verhalten, unsere Stimmung und unsere Möglichkeiten“, meint Eva Gütlinger. Die Ursprungsfamilie bleibt, aber vielleicht findet man neue Quellen, die Stärkung und Rückhalt sind. So könnte man dem Leben neue Wendungen geben.
Filmtipps:
Coco. Oscarprämiertes Animationsabenteuer um einen jungen Musiker aus Mexiko, der am Tag der Toten seine Verwandten in der Unterwelt besucht.
Vererbte Narben – Generationsübergreifende Traumafolgen (2017). ARTE-Doku, ist auf YouTube abrufbar.
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