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Die Wissenschaftlerin ist am Forschungsinstitut für Altersökonomie der Wirtschaftsuniversität Wien tätig.
Andere Branchen seien in der Digitalisierung sehr viel weiter als der Bereich der Langzeitpflege. Birgit Trukeschitz vom Forschungsinstitut für Altersökonomie an der Wirtschaftsuniversität Wien (WU) ortet als Ursache dafür Folgendes: „Einerseits ist Pflege ein personenbezogener Beruf, eine Dienstleistung von Mensch zu Mensch. Andererseits ist der Bereich massiv abhängig von öffentlichen Geldern. Und wenn diese Gelder nicht zur Verfügung gestellt werden, hat die Pflege kaum Möglichkeiten, Reserven zu erwirtschaften und dann beispielsweise in die neueste Einsatzplanungs-Software zu investieren.“
Wo digitale Technologien sinnvoll eingesetzt werden können, damit beschäftigt sich das Forschungsinstitut für Altersökonomie der WU. „In unseren Forschungsprojekten setzen wir Ideen zusammen mit unseren Technik-, Design-, Pflege- und Businesspartner:innen um“, erklärt Birgit Trukeschitz.
Stets handle es sich hier um Technologien, die nicht einfach so im Supermarkt oder bei einschlägigen Anbieter:innen gekauft und dann verwendet werden können. „Es geht um etwas Neues und Revolutionäres, das auf ganz praktische Probleme anwendbar sein soll.“ Der Fokus der Projekte liege auf digitalen Technologien für ältere Menschen und Technologien für die Langzeitpflege.
Bei dem derzeitigen Flaggschiff-Projekt „Care about Care“ wird einerseits eine „Pflege-App“ (entwickelt von der Mocca Software Gmbh) und andererseits die „Pflege-Fernunterstützung“ (entwickelt von der Fachhochschule Wiener Neustadt) für die mobile Pflege getestet.
„Wir kennen es von Telekomunternehmen, dass jede Person ein Zugangsportal hat, wo sie nachschauen kann, wieviele SMS, Minuten etc. sie verbraucht hat und wie hoch die Kosten sind. In der mobilen Pflege kennt man so etwas nicht. Man wartet auf die Heimhilfe oder Hauskrankenpflege, ohne genau zu wissen, wann sie kommt.“
Die Pflege-App soll den Menschen die Möglichkeit geben, nachzuschauen, ob und wann die Pflegekraft konkret kommt. Gleichzeitig können die Nutzer:innen damit Termine auf Knopfdruck verschieben, etwa wenn ein Arztbesuch erforderlich wird.
Auch den Anruf bei der Pflegeorganisation soll die App einfacher machen, indem direkt in der App der Kontakt aufgerufen wird, ohne im Handy oder der Dokumentationsmappe nach der Nummer suchen zu müssen. „Das sind zwar Kleinigkeiten, aber sehr wertvolle Kleinigkeiten“, sagt Trukeschitz. Zusätzlich gibt es eine Marktplatz-Funktion, die über verschiedene Produkte informieren kann, von Inkontinenzhilfsmitteln bis zum Pflegebett.
Der zweite Teil des Projekts soll Heimhilfen und Hauskrankenpfleger:innen, die meist allein vor Ort sind, aus der Ferne unterstützen. „Nicht immer lassen sich Situationen exakt so beschreiben, wie man sie gerade vorfindet.
Mit der Pflege-Fernunterstützung haben die Pflege- und Betreuungspersonen eine App am Diensthandy, mit der sie über eine Art Video-Streaming mit der Stationsleitung, der Wundmanagerin oder einer anderen Fachkraft die weitere Vorgehensweise besprechen können“, sagt Trukeschitz.
„Positive Rückmeldungen der Nutzer:innen gab es beispielsweise zur besseren Kontrolle des Wundverlaufs.“ Auch das gemeinsame Betrachten und eventuelle Verbessern der Pflege- und Betreuungsumgebung zu Hause sei als interessanter Anwendungsfall für die Fernunterstützungs-App gemeldet worden.
Eine Erkenntnis auf der Forscher:innenseite ist, dass es nicht reiche, Technologien einfach so zu übergeben. Es sei immer ein Organisationsentwicklungsprozess damit verbunden.
„Digitalisierung ist mehr als nur die Anwendung digitaler Informations- und Kommunikationsmittel, sondern ein viel tiefergehender, aus meiner Sicht nicht reversibler Prozess“, sagt Trukeschitz. Deshalb sei das ständige Mitlernen für alle Altersgruppen, aber auch für Organisationen enorm wichtig.
„Auch die Pflegeausbildung muss sich entsprechend mitentwickeln. Gerade in der Langzeitpflege ist es wichtig, attraktive Arbeitsplätze zu schaffen, vor allem für Generationen, die mit den Technologien aufgewachsen sind.“
Wichtig sei zudem, einen technologischen Rahmen zu schaffen, damit die Verwendung digitaler Werkzeuge auf einem (daten-)sicheren Weg geschehe.
„Sensible Daten sollten nicht unreflektiert über Apps verbreitet werden, weil sie gerade zur Hand sind oder im privaten Bereich vielfach verwendet werden“, sagt Trukeschitz. Neu entwickelte Technologien sind nicht automatisch sinnvoll: „Eine KI (Künstliche Intelligenz, Anm.) zum Beispiel schreibt Daten fort, die schon bestehen. Das kann auch zu irreführenden und falschen Ergebnissen führen“ sagt Trukeschitz. „Man muss die Dinge immer reflektieren, sich genug Zeit geben, auszuprobieren und zu lernen. Sobald wir nicht mehr hinterfragen, was eine Technologie eigentlich tut, begeben wir uns in einen gefährlichen Blindflug hinein. Wir müssen hier als Gesellschaft massiv aufpassen, welche Technologien wir für welche Einsatzzwecke verwenden.“
Infos zum Projekt: www.careaboutcare.eu
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