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Kaum jemand vermag das hymnische Gedicht von Friedrich Hölderlin – „Patmos“ – auswendig zu sagen. Zu verwirrend sind die Bilder und Andeutungen im Text. Zwei Zeilen daraus aber haben sich in das Gedächtnis vieler Menschen eingegraben: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“
Im Jahr 1803 hat Hölderlin die Hymne geschrieben. Die Menschen in Europa haben damals wohl ähnlich empfunden, wie viele es auch heute tun: Damals zitterte Europa vor den Feldzügen Napoleons. Landkarten wurden durchgerüttelt, alte Ordnungen erschüttert. Über Österreich und das südliche Deutschland waren die französischen Truppen bereits weggezogen. Eine unruhige Zeit war es, und man konnte nie wissen, was das nächste Jahr, oft auch nur der nächste Tag bringen würde.
Ob wichtige Errungenschaften halten werden, die nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut wurden: die Menschenrechte ganz im Allgemeinen; die Grundprinzipien der Demokratie; die Anerkennung von gleicher Würde und Rechte, unabhängig von Herkunft und Hautfarbe der Menschen? Und ob der Krieg wieder als ganz legitimes Mittel der Politik gesehen wird?
Hölderlins Zeilen sind nicht billiger Trost. Das Rettende ist nicht einfach von selber da. Wachsen muss es. Stark werden. Die heute Achtzigjährigen, also im Zweiten Weltkrieg Geborenen – und auch deren Kinder und Kindeskinder – wären wohl nicht auf die Welt gekommen, hätten ihre Eltern nicht in der Zeit der trostlosesten Umstände des 20. Jahrhunderts an das Rettende geglaubt: Dass eine Zukunft sein wird. Dass etwas auch gut werden kann.
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