Katharina Schindelegger (33) ist Theologin und Journalistin. Sie ist in den Pfarren Ober Sankt Veit und Unter Sankt Veit – Zum Guten Hirten (Wien 13) als Pastoralassistentin tätig.
Missbrauch geistlicher Autorität hat viele Gesichter. Sexuelle Übergriffe sind nur ein Teil davon. Es geht auch subtiler. Was genau versteht man darunter, wenn etwa im Stift Heiligenkreuz geprüft werden soll, „in welchem Maß geistliche Autorität in verantwortungsbewusstes und dienendes Handeln umgesetzt wird“? Oder im aktuell verhandelten Fall des ehemaligen Jesuiten Marko Rupnik, der Frauen spirituell manipuliert und sexuell ausgenützt haben soll? Die Österreichische Bischofskonferenz hat 2021 die Arbeitsgruppe „Spirituelle Gewalt“ eingesetzt, der der Moraltheologe Walter Schaupp angehört.
Nicht nur Minderjährige, auch Erwachsene können im seelsorglichen Raum Missbrauch und Gewalt erfahren. Neben sexuellen Übergriffen rückt geistlicher Missbrauch immer mehr in den Blick. Was ist das?
Walter Schaupp: Es gibt noch keine einheitliche Definition, aber Ansätze: Spirituelle Gewalt liegt vor, wenn jemand seine religiöse Autorität nutzt, um andere zu kontrollieren, zu manipulieren, emotional auszubeuten – nicht, um zu dienen. Wenn also ein geistlicher Begleiter oder eine Begleiterin nicht hilft, Gott zu finden, sondern sich selbst zum Maßstab macht.
Sie sprechen von „spiritueller Gewalt“ statt von „geistlichem Missbrauch“. Warum?
Schaupp: Die Begriffe werden ähnlich verwendet. Im wissenschaftlichen Kontext kommt eher der Begriff „Gewalt“ zum Einsatz, auch bei sexueller „Gewalt“ statt sexuellem „Missbrauch“. In jedem Fall geht es um die Ausnutzung geistlicher oder religiöser Autorität zur Beeinflussung und Kontrolle von Menschen unter dem Deckmantel von Seelsorge oder geistlicher Begleitung.
Wann kippt geistliche Begleitung in Missbrauch oder Gewalt?
Schaupp: Jeder Mensch hat das Recht, seinen religiösen Weg zu wählen und zu gestalten. Spirituelle Gewalt schränkt diesen Raum ein, manipuliert und kontrolliert, oft mit dem Argument, man wisse „im Namen Gottes“, was richtig für jemanden sei. Dabei werden Betroffene oft von Familie oder Freunden abgeschnitten. Die eigene Gruppe wird als auserwählt oder allein „auf dem rechten Weg“ dargestellt. Außenstehende gelten als verloren oder gefährlich.
Wie sieht das in der Realität aus?
Schaupp: Häufiger als etwa in der Pfarrseelsorge geschehen spirituelle Übergriffe in neuen geistlichen Bewegungen und religiösen Gemeinschaften. Diese Gruppen arbeiten oft mit starker persönlicher Bindung und betonen Gehorsam gegenüber geistlichen Autoritäten. Aber auch in klassischen Beicht- und Begleitungssituationen kann spirituelle Gewalt geschehen – etwa wenn Priester im Namen Gottes bestimmte Entscheidungen fordern. Auffällig ist, dass spirituelle Gewalt oft der sexuellen Gewalt vorausgeht oder sie begleitet. Täter tarnen Übergriffe als Ausdruck göttlicher Liebe.
Wie reagieren Betroffene?
Schaupp: Psychologen in den USA haben festgestellt, dass Betroffene Burn-out-Symptome zeigen können: emotionale Erschöpfung, Entscheidungsunfähigkeit, Selbstzweifel. Sie hatten das Gefühl, alles richtig zu machen – und fühlten sich trotzdem innerlich leer.
Was kann man dagegen tun?
Schaupp: Es braucht Leitlinien und Schulungen, sowohl für Seelsorgende als auch für höhere Leitungspositionen. Die Arbeitsgruppe „Spirituelle Gewalt“ der Österreichischen Bischofskonferenz arbeitet daran, das Thema in die Rahmenordnung „Die Wahrheit wird euch frei machen“ zur Missbrauchsprävention einzuarbeiten. Betroffene müssen ernstgenommen werden. Übergriffige Situationen sind für Betroffene oft schwer zu erkennen, erst rückblickend bemerken sie, dass sie ausgebeutet wurden. Sie haben sich auf Versprechen eingelassen, etwa auf eine tiefe Gottesbeziehung oder eine klare Berufung – doch die Versprechen wurden nicht erfüllt.
Geistliche Übergriffe werden also oft erst im Nachhinein erkannt?
Schaupp: Ja, spirituelle Gewalt ist subtil. Es ist oft nicht klar, wo sie beginnt. Dort, wo der Pfarrer predigt, dass du sicher in die Hölle kommst? Oder vielleicht, wenn gegen den Kinderwillen vor der Erstkommunion eine Erstbeichte verlangt wird? Das Erleben von spiritueller Gewalt ist zeitabhängig. In anderen Zeiten waren Praktiken üblich, die heute als Gewalt diskutiert werden. Klar ist aber, dass Gehorsam auch heute zum Ordensleben gehört.
Wie sieht gesunde geistliche Begleitung aus?
Schaupp: Christlicher Glaube verteidigt das Leben und muss sich daran messen lassen. Man kann Menschen nicht im Namen des Lebens geistlich aushungern oder zerstören. In der Begleitung wird gemeinsam geprüft: Was ist wirklich Gottes Stimme? Was sagt mein Gewissen? Die Begleiterin oder der Begleiter soll helfen, die innere Stimme zu entdecken – nicht sie ersetzen.
Was raten Sie Betroffenen?
Schaupp: Nie den Hausverstand ausschalten. Der eigenen Intuition vertrauen – und dem, was das eigene Gewissen sagt. Wenn sich etwas dauerhaft falsch anfühlt, ist es das oft auch. Und: reden. Sobald Menschen anfangen, ihre Erlebnisse jemandem außerhalb der Gemeinschaft zu erzählen, beginnt oft schon der Weg zur Befreiung. Das Sprechen macht vieles erst bewusst.
Univ.-prof. i. r. Dr. Walter Schaupp
leitete bis 2019 den Lehrstuhl für Moraltheologie der Katholisch-Theologischen Fakultät in Graz. Seit 2018 gehört er zur Theologenkommission der Österreichischen Bischofskonferenz.
Foto: Bioethikkommission
Erinnerungen einer Ordensfrau an die Zeit in einer toxischen Gemeinschaft zeigen mehrere Dimensionen des Missbrauchs geistlicher Macht. Diese Ordensfrau entschloss sich in einem langen und schwierigen inneren Prozess, die Gemeinschaft zu verlassen, obwohl ihr von den Vorgesetzten nahegelegt wurde, sich lieber das Leben zu nehmen als auszutreten. Name der Redaktion bekannt.
„Schwester A. hat mir gesagt, dass mein Gewissen keine Bedeutung hat und das innerste Kriterium meiner Entscheidungen sein muss: unsere Konstitutionen und unsere Vorgesetzte. Ich habe geantwortet, dass es meines Erachtens mein Gewissen ist. Die Folge: Meine Beziehung zu Gott wurde als problematisch bezeichnet.“ ...
„Es wurde mir nicht die Zeit gegeben (auch wenn ich ausdrücklich darum gebeten habe), um Gründe zu verstehen, und ebenso wenig für die persönliche Entscheidung im Gebet. Das wurde so begründet, dass ich zu viel denke und zu wenig glaube und dass es für mich nicht notwendig sei, Gründe zu verstehen.“
„Bis jetzt habe ich die Exerzitien immer innerhalb der Gemeinschaft gemacht, trotz vieler Vorwürfe, dass ich nicht beten könne und dass das, was ich im Gebet gefunden habe, nicht der Wille Gottes sei.“ ...
„Wenn sich mein Gewissen stark gegen bestimmte Forderungen ausgesprochen hat, habe ich sie nicht ausgeführt. Die Folgen: Aussagen, dass ich … vor Gott verloren sei und es keine Rettung für mich gäbe; Erniedrigungen vor fast der ganzen Schwesterngemeinschaft oder vor einer Gruppe der Schwestern.“
„Eines Tages begann Schwester Z. mit dem Aufschreiben meiner Fehler und Sünden und versuchte, die Kontrolle über alle Telefongespräche auszuüben ... Sie selbst sagte mir, dass sie ihre Liste (zur Vorgesetzten) nach Rom geschickt hat. Alles, was ich … von unserer Wohnung aus erledigen musste, war sehr unangenehm, da die Mitschwester daneben lauschte und Zeit, Dauer und Inhalt des Gesprächs aufschrieb.“ ...
„Ich habe ... nach der Möglichkeit der freien Wahl der geistlichen Begleitung gefragt. (Mir wurde gesagt), dass das absolut unmöglich ist und in der Gemeinschaft nie erlaubt sein wird, auch wenn deswegen alle Schwestern austreten würden.“
„In unserem Alltagsleben: Alles muss gleich sein – die gleiche Weise des Denkens, des Sprechens, des Schreibens, des Studiums, des Rastens, der gleiche Zugang zu den Menschen, die gleichen Freunde .... Das aber, was an einer Person einzigartig und verschieden ist, darf und kann so nicht zum Ausdruck kommen und kann sich deswegen nicht weiterentwickeln. Diese Nivellierung bewirkt in mir großes innerliches Leiden, besonders wenn es sich um die Nivellierung des Verstandes und der geistlichen Prozesse und der Beziehungen zu den Mitmenschen handelt.“
„(Mir wurde) gesagt, ... dass ich mein Inneres dem bösen Geist geöffnet habe, dass ich von ihm besessen sei und dass er in mir alles abreißen werde, sodass ich am Ende ganz zerstört werde. Während dieses sechs Stunden langen Gesprächs (wurde) mir mehr als 20 Mal gesagt, dass ich vom bösen Geist besessen sei.“
Katharina Schindelegger (33) ist Theologin und Journalistin. Sie ist in den Pfarren Ober Sankt Veit und Unter Sankt Veit – Zum Guten Hirten (Wien 13) als Pastoralassistentin tätig.
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