BRIEF_KASTEN
Zugegeben: Als ich in die Volksschule kam, konnte ich gerade erst meinen Vornamen schreiben – und das nur in Blockbuchstaben. Kindergarten gab es bei uns keinen. Man hatte es damals wohl noch nicht so eilig mit dem schnellen Vorwärtskommen. Später wurde Schreiben zu meinem Beruf.
Es gibt zwar keine genauen Zahlen, aber bis zu 20 Prozent der über 15-Jährigen in Österreich können nicht so lesen, dass sie den Sinn eines längeren Textes erfassen könnten. Diesen Artikel beispielsweise würden sie nicht verstehen. Sie konnten nie richtig lesen oder haben es wieder verlernt. Man spricht von Analphabetismus. Betroffene haben es in vielem schwer im Leben. Lesen und Schreiben sind eben Grundfähigkeiten. Beherrscht man das nicht, bleiben viele Türen im Leben verschlossen.
Es gibt so etwas wie Analphabetismus auch in vielleicht noch wichtigeren Bereichen. In einer Zeit, die stark vom Kaufen und Verkaufen geprägt ist, gerät die Fähigkeit zu bitten in Vergessenheit. Man bezahlt, was man braucht, oder man hat es eben nicht. Zu bitten gerät immer mehr aus dem Sinn, vielleicht aus Scham. Es wäre mit dem Bekenntnis verbunden: Alleine schaffe ich es nicht.
Vielleicht ist die Scham zu bitten und auch jene zu danken, ohne gleich eine Gegenleistung anbieten zu wollen, ein Grund, warum sich Menschen mit dem Glauben recht schwertun. Es ist ja das Bekenntnis, dass man die wichtigsten Sachen im Leben – das Leben selbst oder das, was man Liebe nennt – nicht kaufen oder selbst leisten kann. Bitten kann man. Und dankbar sein.
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