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„Das Empfindsame, das Zärtliche passt nicht wirklich zum Zeitgeist. Es scheint unschicklich geworden zu sein, darüber zu sprechen. Für viele Menschen – Erfolgsmenschen, Gewinnertypen – stellt die Zärtlichkeit eine unverzeihliche Schwäche dar“, sagt Isabella Guanzini. Sie ist Fundamentaltheologin und spricht sich in ihrem neuen Buch „Zärtlichkeit. Eine Philosophie der sanften Macht“ für eine andere Haltung aus: „Ich glaube, man muss nur einmal – ganz ohne Zynismus – an die zärtlichen Hände denken, die uns schon bei der Geburt empfangen und am Leben erhalten haben. Dann könnte man zu sehen beginnen, dass wir nur dank zärtlicher Gesten wirklich menschlich bleiben.“ Zärtlichkeit ist für sie eine Art des Wahrnehmens und Erkennens, eine Haltung, die die Verletzlichkeit aller Dinge sieht.
Wie kann diese Zärtlichkeit im Alltag wirksam werden oder im positiven Sinne „Macht“ entfalten? Für Guanzini geht es „um einen neuen Umgang mit der Welt, einen neuen Modus des Fühlens, der unsere standardmäßige automatische, selbstzentrierte Einstellung in Frage stellt“. – Und diese neue Haltung ist nicht irgendwann, wenn das Wetter passt, wie ein Winterkleid umzulegen, sondern kann sofort angewendet werden: „Jede Person hat in jeder Situation die Macht und die Möglichkeit, Kontakt für Kontakt, die Welt menschlicher oder unmenschlicher zu machen“, beschreibt Guanzini ihre Sicht von Zärtlichkeit. In Zeiten von Corona und Abstandsregeln hat sich mancher soziale Konflikt verschärft, gleichzeitig sei durch die Isolation eine neue Solidarität entstanden. Trotz Maske gäbe es Möglichkeiten, Nähe auszudrücken. Zwar dürfen die Hände den anderen nicht berühren, dafür aber die Augen: „Wenn man in der Zeit der Pandemie einer anderen Person begegnet und von ihr Abstand hält, kann das ‚Sich-in-die-Augen-Schauen’ andere zwischenmenschliche Kontakte eröffnen“, sagt Guanzini.
Apokalypse der Zärtlichkeit? Tag der Linzer Hochschulen mit Isabella Guanzini, Mi., 21. Oktober, 19 Uhr. Anmeldung notwendig: Tel. 0732 24 40 11 45 73
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