BRIEF_KASTEN
Die so feste Gewissheit gilt eben nur für die nördliche Hälfte der Erde. In der anderen geht es dem Winterhöhepunkt zu. Nicht nur beim Kalender hat der Norden dem Süden seine Vorstellung aufgedrückt. Die Geschichte des Kolonialismus zeigt es: Der Norden, vor allem der westliche Norden, hat sich immer einfach geholt, was er haben wollte, und wenig Rücksicht auf die Menschen auf der anderen Seite genommen.
Sommer ist also für uns – und für andere Winter.
Wir sind es gewohnt, die Lebensumstände nach unserem eigenen Erleben zu betrachten. Aber während einer in seinen betagten Jahren lebt, beginnt ein anderer Mensch – vielleicht sogar in der eigenen Familie – erst mit der Schule. In einer Abteilung eines Krankenhauses wird geboren, in einer anderen wird ein Mensch in seinen letzten Stunden betreut. Während ein Sportler jubelnd seine Arme in die Höhe reißt, sitzt ein anderer enttäuscht am Rand. Während die einen in der Hitze die Kühle des Seewassers genießen, schwitzen andere in der Küche, um das Abendmenü für die Gäste vorzubereiten. Während ein Mensch sagt, er habe aus diesen und jenen Gründen seinen Glauben verloren, schöpft ein anderer erstmals die Hoffnung auf einen gnädigen Gott.
Wie oft hat sich eine eigene Überzeugung als Irrtum erwiesen. Wie gut war es da, dass es andere gab mit einer besseren Sicht.
So ist die Welt gemacht: nicht nur mit einer Seite. Auch die andere zu sehen und schätzen zu lernen, das ist die Kunst – und das Glück.
BRIEF_KASTEN
Jetzt die KIRCHENZEITUNG 4 Wochen lang kostenlos kennen lernen. Abo endet automatisch. >>