Jede hundertste Person ist davon betroffen: Ihre Geschlechtsmerkmale sind nicht eindeutig dem männlichen oder weiblichen Geschlecht zuzuordnen. Diese Zahl beruht auf Schätzungen, die je nach Definition schwanken – zwischen 0,2 und 1,7 Prozent der Bevölkerung. Nimmt man die Familien dazu, die damit indirekt zu tun haben, sind es wesentlich mehr. Es wären aber verlässliche statistische Untersuchungen nötig, sagt Katharina Mairinger-Immisch. Präzise Angaben sind allerdings schwierig, weil es viele Varianten von Intergeschlechtlichkeit gibt. Katharina Mairinger-Immisch beleuchtete das Thema „Mehrdeutige Körper“ in ihrer Dissertation von der religionswissenschaftlichen, theologischen und ethischen Perspektive. „Ich wusste nichts über das Thema, als es mir mein Doktorvater vorgeschlagen hat. Das fand ich beschämend.“ Daher begann sie zu recherchieren und sich in das Thema der Intergeschlechtlichkeit einzuarbeiten. „Es hat mich immer brennender interessiert. Erst dabei habe ich bemerkt, dass das Thema auch in unserer Großfamilie präsent sein könnte. Aber es spricht niemand darüber.“
Klare Geschlechtervorstellungen bieten in der Gesellschaft Orientierung. „Es erleichtert den Überblick, wenn man etwas in Schubladen und Kategorien einordnen kann“, stellt Katharina Mairinger-Immisch fest. Uneindeutigkeit verunsichere hingegen – weshalb man nicht gerne darüber spricht. Die medizinische Praxis habe ab den 1960er-Jahren zusätzlich dazu beigetragen, Intergeschlechtlichkeit zu tabuisieren. Damals begann man, intergeschlechtliche Kinder durch möglichst frühe Operationen einem Geschlecht anzupassen, in der Annahme, sie würden dadurch psychisch gesünder aufwachsen. Die Realität zeigte jedoch das Gegenteil: Häufige Identitätskrisen führten zu psychischen Belastungen bis hin zum Suizid. Teilweise wurde sogar den Eltern verschwiegen, dass ihr Kind operiert wurde, oder man hat etwa eine Krebsdiagnose vorgeschoben, um die Entfernung der Keimdrüsen (Hoden oder Eierstöcke) zu begründen.
Nicht nur in der christlichen Welt, auch in anderen religiösen Traditionen wurden nicht „eindeutig“ geborene Kinder häufig dämonisiert. „Man ist zum Beispiel davon ausgegangen, dass die Schuld der Eltern irgendwie auf das Ungeborene übergeht und dadurch Intergeschlechtlichkeit entsteht“, nennt Mairinger-Immisch eine Deutungsvariante. Nur sehr wenige Fälle in der Religionsgeschichte gebe es, wo das Phänomen positiv gedeutet wurde – „als zweigeschlechtliche Inkarnation Gottes“ etwa in hinduistischen Traditionen. Ansonsten ging die Interpretation „eher in die Richtung Verurteilung, Bezeichnung als Monster, Bestien oder Ähnliches“.
Intergeschlechtlichkeit ist nicht einem eindeutigen Symptom oder Merkmal zuzuordnen, sie kann sich in vielen verschiedenen Varianten zeigen. Eine davon ist etwa das sogenannte adrenogenitale Syndrom, bei dem genetisch weibliche Embryos durch hormonelle Einflüsse äußere Merkmale entwickeln, die männlich wirken. Es gibt aber auch zahlreiche Chromosomenvarianten, etwa Mischformen zwischen Hoden und Eierstöcken oder innenliegende Hoden bei äußerlich weiblichem Genital. Außerdem können bei verzögerter oder unvollständiger Entwicklung von Geschlechtsmerkmalen in der Pubertät körperliche Veränderungen auftreten, die zuvor nicht erkennbar waren.
Damit sich der Umgang mit mehrdeutigen Körpern in Gesellschaft und Kirche entspannt, braucht es viele Menschen, die sich dafür einsetzen, meint Katharina Mairinger-Immisch. „Ich glaube, ein Zusammenspiel von öffentlichen Big-Playern wäre da auf jeden Fall hilfreich.“ Es brauche staatliche, politische, kirchliche und weitere Initiativen, damit es in der gesamten Gesellschaft bewusst wird. Das Leben als Außenseiter ist für die meisten Betroffenen eine Belastung. Deshalb braucht es „in der Gesellschaft Toleranz für Mehrdeutigkeiten“. Weder Männer noch Frauen noch intergeschlechtliche Personen bilden eine homogene Gruppe aus lauter Gleichen, sondern es gibt überall viele Schattierungen, die voneinander abweichen, aber alle „in Ordnung“ sind.
Offenheit in Kirche und Gesellschaft wünscht sich die Theologin Katharina Mairinger-Immisch für ihr Forschungsthema: mehrdeutige Körper.
Warum ist Intergeschlechtlichkeit so stark tabuisiert?
Mairinger-Immisch: Zum einen wegen der gesellschaftlichen Fixierung auf klare Geschlechterrollen, zum anderen wegen der Medizingeschichte. Ab den 1960er-Jahren wurde versucht, uneindeutige Genitalien chirurgisch zu „korrigieren“, oft ohne Wissen der Eltern oder Kinder. Das führte bei vielen Betroffenen zu psychischen Belastungen bis hin zu Suizid.
Was sagten die Religionen dazu?
Mairinger-Immisch: Intergeschlechtliche Personen galten oft als Monster oder dämonisch. Es gab wenige positive Deutungen in hinduistischen Traditionen, wo Mischwesen göttlich verehrt werden. In der christlichen Tradition dominiert eine ablehnende Haltung.
Welche Varianten gibt es?
Mairinger-Immisch: Es gibt viele, z. B. das adrenogenitale Syndrom, bei dem genetisch weibliche Föten männliche Hormonwirkungen erfahren. Auch chromosomale Besonderheiten zählen dazu. Manche Merkmale zeigen sich erst in der Pubertät. Intergeschlechtlichkeit ist vielfältig.
Wie viele Menschen sind betroffen?
Mairinger-Immisch: Die Schätzungen reichen von 0,2 % bis 1,7 % der Bevölkerung, je nach Definition. Genaue Zahlen sind schwer zu erheben. Aber selbst 0,2 % bedeuten, dass viele Menschen betroffen sind – plus deren Familien.
Warum sollte man mehr über dieses Thema wissen?
Mairinger-Immisch: Angesichts sozialer Normen und Schönheitsideale kann es helfen zu wissen, dass Abweichungen keine Mängel, sondern Teil der natürlichen Vielfalt sind.
Wie ist der theologische Blick auf Intergeschlechtlichkeit?
Mairinger-Immisch: Bisher ist das Thema in der Theologie stark unterbelichtet. Es gibt erst seit Kurzem theologische Stellungnahmen, etwa in einem Dokument der vatikanischen Bildungskongregation von 2019. Paradoxerweise wird bei Intergeschlechtlichkeit operatives Eingreifen empfohlen, was bei Transsexualität strikt abgelehnt wird. Das zeigt doppelte Standards, die theologisch überdacht werden müssen.
Welche Veränderungen wünschen Sie sich?
Mairinger-Immisch: Mehr Offenheit und Dialogbereitschaft – sowohl in der Kirche als auch in der Gesellschaft. Die Kirche sollte eine Willkommenskultur entwickeln und sich aktiv mit intergeschlechtlichen Menschen und ihren Lebensrealitäten auseinandersetzen. Nur so wächst Vertrauen.
Katharina Mairinger-Immisch ist Mitarbeiterin am Fachbereich Theologische Ethik der Ruhr-Universität Bochum und derzeit im Mutterschutz. Ihre Dissertation schrieb die Schärdingerin an der Katholisch-Theologischen Fakultät in Wien. Für ihre Arbeit mit dem Titel „Ambige Körper. Über die Anerkennung intergeschlechtlicher Menschen in Theologie und Kirche“ wurde sie bereits mit vier Wissenschaftspreisen in Österreich und Deutschland ausgezeichnet.
Buchtipp: Katharina Mairinger-Immisch, Mehrdeutige Körper – Über die Anerkennung intergeschlechtlicher Menschen in Theologie und Kirche. transcript Verlag 2023, 296 S., € 39,–
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