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Gregor Leirich, der Ich-Erzähler in Rudolf Habringers neuem Roman, hat sich ganz gut eingerichtet in seinem ereignisarmen, unprätentiösen Leben. Er hat einen Lehrauftrag als freiberuflicher Historiker an der Universität seines Wohnortes, hält Vorträge beim Bildungswerk und arbeitet nebenbei als Pianist. Er lebt allein, die Ehefrau ist ihm abhanden gekommen, seine Tochter studiert in einer anderen Stadt, die Eltern sind längst tot und zu den Schwestern pflegt er wenig Kontakt. Eines der wenigen Ziele, das er zögerlich verfolgt, ist, einer Kollegin endlich seine heimliche Liebe zu gestehen und damit seinem Leben eine Wende zu geben. Dann aber tritt die Wende aus heiterem Himmel und in ganz anderer Hinsicht ein. Er wird von einer Fremden angesprochen, die ihm von der Existenz eines Halbbruders erzählt, der in der Familiengeschichte bisher totgeschwiegen wurde. Ein ganzer Katalog von Fragen tut sich auf und bringt Leirichs Alltag gehörig ins Wanken. Wie Leirich dann die Suche nach dem Bruder angeht, wie er recherchiert und das geheime Leben des Vaters unter den gesellschaftlichen Bedingungen der Nachkriegszeit erkundet und damit die Familiengeschichte um wesentliche, neue Aspekte erweitert, das erzählt Rudolf Habringer mit Leichtigkeit, Witz und Ernsthaftigkeit zugleich. Mit Gregor Leirich ist ihm eine Figur gelungen, die die Unsicherheiten und Unwägbarkeiten des menschlichen Lebens in einer hervorragenden Weise verkörpert. In seiner Skurrilität – unter anderem sammelt er mit Akribie vom Aussterben bedrohte Wörter – erinnert Leirich an Figuren des 2018 verstorbenen Büchnerpreisträgers Wilhelm Genazino. Und ganz nebenbei erfährt man in dem Buch auch noch viel über Musik, insbesondere Jazz, die nicht nur Leirichs Leidenschaft ist, sondern auch eine des Autors. Eine höchst erfreuliche Neuerscheinung des literarischen Frühlings 2021.
Rudolf Habringer: Leirichs Zögern. Otto Müller, Salzburg – Wien 2021, 300 Seiten, € 25,–. ISBN 978-3-7013-1284-9
Ein einziger Tag in der Familiengeschichte des als Theaterautor bekannt gewordenen Oberösterreichers Thomas Arzt spielt die Hauptrolle in dessen erstem Roman. Dieser eine Tag ist der 10. April 1938, der Tag der Volksabstimmung, bei der über 99 Prozent der Wahlberechtigten für den Anschluss Österreichs an Nazideutschland stimmten. Er handelt von Arzts Großonkel Karl Bleimfeldner, der wegen der Volksabstimmung aus seinem Studienort in sein Heimatdorf zurückkommt. „Der Studierte aus Innsbruck, der für einen Tag und eine Nacht Heimgekehrte, der‘s besser wissen wollt als der Rest.“ Karl nämlich war der Einzige im Dorf, der gegen den Anschluss gestimmt hat. Das konnte jeder wissen, weil es ja keine faire Wahl war. Der Autor, der den Großonkel nicht mehr persönlich kennengelernt, sein damaliges Abstimmungsverhalten jedoch als tradierte Heldengeschichte im Ohr hat, will genauer wissen, was damals geschehen ist. Er recherchiert und überlegt und stößt dabei auf ein dicht verwobenes Gefüge von Fanatismus und Opportunismus, von Mitläufertum und Resignation, von Widerstand, Feigheit und Mut, von Risikobereitschaft und innerer Überzeugung in der Dorfbevölkerung – von der Familie über die Bürgermeisterstochter, den Pfarrer und den Dorfgendarm bis zum geistig zurückgebliebenen Seppl, auch auf die Bedeutung von Heimat, Verbundenheit, Liebe und familiären Beziehungen – und stellt damit eine beklemmende Aktualität her. Die Sprache ist für
einen Roman ungewöhnlich und gewöhnungsbedürftig. Sie ist nicht nur stark an die Umgangssprache bzw. den Dialekt angelehnt, vielen Sätzen fehlt das Prädikat oder man findet originelle Wortschöpfungen. Das stört jedoch gar nicht die Verständlichkeit, sondern erzeugt eine mitreißende Intensität und eine Geschwindigkeit, die den Ereignissen dieses Tages – wie sie sich zugetragen haben könnten – ziemlich genau angemessen ist.
Thomas Arzt: Die Gegenstimme. Residenz Verlag, Salzburg – Wien 2021, 189 Seiten, € 20,–. ISBN 9783701717361
„Das wär‘ ja noch schöner, wenn eine wie du was wollen dürfte.“ Ein Satz, den die 13-jährige Johanna nicht nur einmal zu hören bekam und ein Satz, der die allgemeine Einstellung einem damals so genannten „ledigen Kind“ gegenüber sehr deutlich zum Ausdruck bringt. Es ist die Zeit des aufbrechenden Nationalsozialismus und der politischen Gegensätze zwischen den beiden Weltkriegen, eine Zeit der Armut und Arbeitslosigkeit in weiten Kreisen der Bevölkerung. Renate Welsh hat in ihrem 1979 erschienen, mittlerweile zum Jugendbuchklassiker gewordenen Buch das Leben ihrer Protagonistin Johanna, ihr Aufwachsen bei Zieheltern und dann als Magd auf einem Bauernhof im südlichen Niederösterreich eindrücklich beschrieben. Die Geschichte endet, als Johanna 18 Jahre alt ist. Jetzt hat Renate Welsh unter dem Titel „Die alte Johanna“ die Geschichte mit viel Empathie weitererzählt. Das reale Vorbild ist die gleiche Nachbarin der Autorin, die trotz schwieriger Umstände ihr Leben gemeistert hat und zu einer lebenstüchtigen, starken und weisen Frau geworden ist. „Ich hab‘ diese Frau sehr bewundert, weil ich dachte, sie ist ein Beispiel dafür, dass ein Mensch mehr sein kann als die Summe dessen, was ihm widerfahren ist“, sagt die Autorin. „Wenn es hinten und vorn für einen selbst nicht reicht, dann muss man erst recht teilen. Dann ist genug für alle da“, sagt Johanna in einem Gespräch mit ihrer Enkelin, die das gar nicht logisch findet. „Stimmt. Logisch ist es nicht, aber wahr.“ Es sind Sätze wie dieser, die die Erzählung eines unspektakulären Frauenlebens zu einem Schatz an Lebensweisheit machen.
Renate Welsh: Die alte Johanna. Czernin Verlag, Wien 2021, 187 Seiten, € 20,–. ISBN 9783707607246
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