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Es scheint so, als würde sich im aktuellen Filmschaffen ein Trend bestätigen, der sich schon in den letzten Jahren abgezeichnet hat. Das 71. Internationale Filmfestival von Locarno in der Schweiz, das am 11.August mit der Prämierung der Siegerfilme der verschiedenen Wettbewerbsschienen zu Ende gegangen ist, lieferte den endgültigen Beweis dafür, dass sich der sogenannte Arthaus-Film (oft nur noch ausschließlich auf Festivals zu sehen) immer weiter von den großen kommerziell erfolgreichen Mainstream-Produktionen entfernt. Ob das immer mit einer Qualitätssteigerung einhergeht, sei dahingestellt.
Viele Filme, die heuer in Locarno präsentiert wurden, huldigen sowohl inhaltlich, aber auch formal dem Stillstand. Das Publikum wurde dadurch oftmals auf eine hohe Belastungsprobe gestellt. Das sogenannte „Slow Cinema“, ein Begriff, der sich ausgehend von den langen ohne Schnitt gedrehten Sequenzen in den Filmen von Theo Angelopoulos, Bela Tarr oder Andrej Tarkowski herausgebildet hat, wurde leider in einigen Filmen missinterpretiert. Während in den Filmen dieser einflussreichen Regisseure der Minimalismus und die erzählerische Reduktion immer auch mit einer Reflexion über die Zeit und das Filmemachen selbst verbunden waren, hatte man bei einigen Filmen des Wettbewerbs „Cineasten der Gegenwart“ den Eindruck, dass sich Langsamkeit in starren Kameraeinstellungen auf starrende Menschen erschöpft. So versucht eine junge Frau in dem spanischen Beitrag „Trote“ der bedrückenden Atmosphäre in einem Bergdorf in Galizien zu entkommen, was ihr Bruder aber zu verhindern weiß. Minutenlang konfrontiert Xacio Bano das Kinopublikum mit schweigsamen Gesichtern, die wohl die Kommunikationslosigkeit und Unfähigkeit zur Empathie in einer durch Traditionen erstarrten Gemeinde evozieren sollen. Auch „Chaos“, der von Österreich koproduzierte Film der Syrerin Sara Fattahi, hat die Erstarrung zum Thema, die drei vom Krieg in Syrien traumatisierte Frauen erfasst. In reduziertem Tempo versucht Fattahi die inneren Aufwühlungen der drei Protagonistinnen angemessen zu reflektieren, doch die in unspektakulären Bildern festgehaltenen Szenen aus deren Alltag können diese Gefühle nicht adäquat wiedergeben. Die Jury des Wettbewerbs „Cineasten der Gegenwart“ konnte aber scheinbar Gefallen an den drei Frauenporträts finden und prämierte den Film mit dem Goldenen Leoparden in dieser Sektion. Reduktion und Lakonie bestimmen auch den türkischen Beitrag „Dead Horse Nebula“, der in einer Abfolge absurder Sequenzen den Alltag in einem abgelegenen türkischen Dorf zeigt. Im Gegensatz zu vielen anderen Filmen in diesem Wettbewerb ermüden die aneinandergereihten Episoden den Zuseher nie, zu skurril erweisen sich die Handlungen der Bewohner dieses Landstrichs, der aus der Zeit gefallen zu sein scheint. Regisseur Tank Aktas wurde völlig zurecht mit dem Preis für die beste Nachwuchsregie ausgezeichnet.
Insgesamt boten die meisten Filme der diesjährigen letzten Auswahl des scheidenden Festivalleiters Carlo Chatrian, der ab nächstes Jahr für die Berlinale-Programmierung verantwortlich ist, aber doch eher konventionelle Kost. Das gilt auch für den Hauptwettbewerb. Schnörkellose Sozialstudien wie „Alice T.“ des Rumänen Radu Muntean, hat man schon zu oft gesehen, als dass einen eine Coming-of-Age-Geschichte über einen Teenager noch zu Begeisterungsstürmen hinreißen könnte. Der Preis für die beste Darstellerin an Andra Guti in der Titelrolle ist trotzdem berechtigt.
Die politisch und formal überzeugendsten Beiträge waren zwei Genrefilme. So erzählt der Italiener Alberto Fasulo, ausgehend von den Prozessakten über den Müller Domenico Scandella, der Ende des 16.Jahrhunderts in der venezianischen Provinz in einem Bergdorf gegen das ausbeuterische Regime der katholischen Kirche aufbegehrt, eine Geschichte über das Spionieren, Ausfragen und Verleumden, die aktueller nicht sein könnte. „Menocchio“ entwirft in atemberaubenden von Renaissancegemälden inspirierten Bildern das Porträt eines Widerständigen, der wegen seiner pantheistischen Ansichten zum Gegner eines repressiven Regimes wird. Auch Yeo Siew Hua gelingt mit seinem wagemutigen Erstlingswerk „A Land Imagined“ eine Abrechnung mit einem System der Ausbeutung, in diesem Fall aktueller Provenienz. Auf einer Landgewinnungsbaustelle in Singapur verschwindet ein Bauarbeiter spurlos, ein Polizeidetektiv wird mit der Ermittlung beauftragt, die ihn immer tiefer in eine Welt führt, deren Existenz ihm bisher verborgen war. Yeos Film ist ein flirrender Alptraum über moderne Sklaverei. Der Goldene Leopard an diesen Film ist absolut nachvollziehbar.
Der beste Film des Festivals wurde allerdings nicht im Wettbewerb gezeigt, weil er seine Premiere schon Anfang des Jahres beim Sundance-Festival hatte, in Locarno nun aber zum ersten Mal international vorgestellt wurde. „Blaze“, der dritte Spielfilm des Schauspielers Ethan Hawke als Regisseur, fokussiert das turbulente Leben des verkannten Songwriters Blaze Foley. Geschickt verwebt Hawke drei verschiedene Zeitebenen, die einerseits der Legendenbildung dienen, diese aber auch gleichzeitig dekonstruieren. In wunderbaren sepiagetönten Bildern schafft es Hawke die Unangepasstheit des Sängers adäquat einzufangen, der durch seinen Hang zur Selbstzerstörung in den Abgrund gezogen wird. Ben Dickey, der die Lieder von Blaze Foley auch selbst interpretiert, ist sensationell. Was die Atmosphäre betrifft, die dieser Film evoziert, hatte er heuer in Locarno keine Konkurrenz.
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