
In der Debatte um das Kinderkopftuch geht es nicht um Religionskritik, sondern um die Frage, wie Kinder später ihren Glauben selbstbestimmt leben können. Religiöse Symbole entfalten ihre Bedeutung erst, wenn sie aus innerer Überzeugung getragen werden. Kleine Kinder aber handeln meist aus Nachahmung. Eine Achtjährige trägt ein Kopftuch nicht aus theologischer Einsicht, sondern weil sie familiären Erwartungen folgt. Das ist verständlich – aber keine freie Entscheidung.
Darum lohnt sich der Blick auf die religiöse Bedeutung des Kopftuchs. Viele muslimische Theologinnen und Theologen (wie Mouhanad Khorchide, Ednan Aslan oder Fatema Mernissi) betonen, dass die koranischen Verse zur Bedeckung historisch zu verstehen sind und kein zwingendes Kleidungsgebot formulieren. Aus religionswissenschaftlicher Sicht ist das Kopftuch daher vor allem ein kulturelles, traditionelles Zeichen, nicht ein unverzichtbares religiöses Symbol. Gerade dieser Unterschied ist wesentlich: Ein Kreuzanhänger oder eine Kette mit Halbmond können von Menschen jeden Geschlechts getragen werden. Die Kippa wird zwar traditionell von jüdischen Männern verwendet, doch das Tragen ist nicht in der Schule oder im Alltag verpflichtend und kann jederzeit abgelegt werden. Das Kopftuch hingegen betrifft ausschließlich Mädchen und trägt damit eine klare Rollenzuweisung in sich. Es vermittelt Erwartungen an Verhalten und Körper: schamhaft, zurückhaltend, verhüllt, angepasst – und es nimmt Mädchen die Möglichkeit, starre Geschlechterrollen überhaupt in Frage zu stellen. Jungen bleiben davon unberührt. Deshalb lassen sich Kreuz, Kippa und Kopftuch nicht gleichsetzen – sie haben unterschiedliche Funktionen und Symboliken.
Entwicklungspsychologische Forschung (wie von Mario Erdheim oder Erwin Ringel) zeigt, wie prägend frühe Rollenvorgaben sind. Wird Mädchen vermittelt, ihr Körper müsse früh kontrolliert und verdeckt werden, beeinflusst das ihr Selbstbild und ihre Fähigkeit, Grenzen zu setzen. Solche frühen Gefühle von Scham und Körperfremdheit machen Mädchen oft gefügig und führen später dazu, dass sie Gewalt nicht sofort erkennen oder sich nicht trauen, sie anzuzeigen. Kinder brauchen jedoch Räume, in denen sie frei von patriarchalen, geschlechtsspezifischen Vorgaben wachsen können.
Der Psychiater Erwin Ringel formulierte es klar: „Religiöse Erziehung sollte ein Angebot sein und kein Aufzwingen.“ Ein Kopftuchverbot für Kinder kann als ein solcher Schutz verstanden werden: Mädchen sollen nicht in eine Rolle gedrängt werden, bevor sie eigene Überzeugungen entwickeln können. Mit der Religionsmündigkeit ab 14 Jahren (bzw. wie im Gesetzestext festgelegt ab 15 Jahren) können sie selbst entscheiden, ob sie ein Kopftuch tragen möchten. Viele berichten, dass es erst dann zu einem positiven Zeichen wird – wenn es Ausdruck eigener Freiheit ist. Genau diese Freiheit gilt es für alle zu bewahren.
Emina Saric _
Emina Saric studierte in Sarajevo Germanistik und an der Uni Graz Geschlechterstudien. Sie arbeitet und forscht unter anderem zu Gewalt im Namen der Ehre und ist Mitglied des Expertenrats für Integration der Bundesregierung.
Der politische Diskurs zum Thema Kopftuchverbot geht davon aus, dass das Tragen eines Kopftuches bei Musliminnen ein Symbol für die Unterdrückung der Frau ist. Wer bestimmt denn, ob etwas ein Zeichen der Unterdrückung ist?
Und was wird Kindern durch das Verbot vermittelt? Die Botschaft, Kinder müssten vor einer religiösen Praktik geschützt werden. Das ist für Kinder und Jugendliche irritierend. Zum einen erleben viele Kinder zu Hause Geborgenheit und Schutz und vertrauen ihren Eltern. Zum anderen sehen sie, dass nur die Kopfbedeckung von Musliminnen zum Problem gemacht wird. Warum sollte plötzlich das Kopftuch, das ihre Mütter oder Schwestern tragen, eine Unterdrückung sein? Sollte nicht vielmehr der Fokus auf echte Zwänge statt auf eine Kopfbedeckung gerichtet sein? Wenn tatsächlich manche Familien ihre Kinder zum Kopftuchtragen zwingen sollten, dann ist es verständlich, dass man Kinder vor Zwang generell beschützen muss.
Kinder experimentieren gerne. Sie ahmen die Mutter oder Schwester nach und probieren einfach etwas aus. Mal tragen sie das Kopftuch, dann wieder nicht. Als Pädagog:innen vermitteln wir Kindern und Jugendlichen demokratische Werte. Wir sprechen über Religionsfreiheit und Menschenrechte. Wir versuchen, Kinder zu selbstbestimmten, mündigen Bürger:innen zu erziehen. Diese fragen mit Recht, was das Verbot des Kopftuchtragens für Unter-15-Jährige bezwecken soll.
In Österreich gibt es Gesetze, die Kinder schützen. Bei Verdacht auf eine Verletzung des Kindeswohls schreitet das Jugendamt ein. Wozu braucht es ein neues Gesetz, das Muslime unter Generalverdacht stellt?
Mädchen, die eine Kopfbedeckung tragen und unter 15 Jahre alt sind, sollten gefragt werden, wie sie sich fühlen und was sie dazu denken, wenn sie gezwungen werden, die Kopfbedeckung abzulegen. Von vielen Kindern und Jugendlichen höre ich, dass sie dies als Diskriminierung sehen. Leider erfahren muslimische Kinder und Jugendliche mit oder ohne Kopftuch ohnehin Benachteiligung. Allein ihr Name ist oft ein Grund, anders behandelt zu werden. Als Pädagogin, Schuldirektorin und psychologische Beraterin bin ich Kindern und Jugendlichen sowie Erwachsenen begegnet, die über ihre Erfahrungen mit Ausgrenzung im schulischen Kontext erzählt haben, über Erfahrungen mit Rassismus und Islamophobie.
Kinder und Jugendliche brauchen Raum für Entfaltung, wo sie mitbestimmen und mitgestalten können. Sie brauchen Raum für Experimente, um sich ihre eigene Meinung zu bilden und ohne Vorbehalte selbst bestimmen zu können. Aus meiner fast 40-jährigen Erfahrung kann ich berichten, dass Kinder und Jugendliche unter 15 in der Lage sind, zwischen Zwang und Selbstbestimmung zu unterscheiden. Ein Verbot wäre kontraproduktiv und würde gegen das Gleichbehandlungsrecht und Selbstbestimmungsrecht verstoßen. Vielmehr würde es neue Wunden in der Psyche von Kindern und Jugendlichen sowie in der Gesellschaft öffnen.
Zeynep Elibol_
Direktorin i. R. der Islamischen Fachschule für soziale Bildung. Sie unterrichtete Physik, Umweltbildung und Religion, wirkte als Seelsorgerin und ist als psychologische Beraterin tätig. 2008 erhielt sie den Frauenpreis der Stadt Wien.
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„§ 43a. (1) Um die bestmögliche Entwicklung und Entfaltung aller Schülerinnen und Schüler im Sinne des Kindeswohls sicherzustellen und insbesondere die Selbstbestimmung, Gleichberechtigung und Sichtbarkeit von Mädchen zu fördern, ist es Schülerinnen bis zur Vollendung des 14. Lebensjahrs untersagt, ein Kopftuch, welches das Haupt nach islamischen Traditionen verhüllt, zu tragen.“ So beginnt der Gesetzesentwurf. Die Umsetzung soll mit einer „Aufklärungsphase“ im Sommersemester 2026 starten, Sanktionen soll es ab dem Schuljahr 2026/2027 geben.

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