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„Es gibt Dinge, die kann man nicht erzählen“ heißt ein aufwühlendes Buch der deutschen Kinder- und Jugendbuchautorin Kirsten Boie aus dem Jahr 2013. Und doch erzählt sie darin Geschichten über vier Kinder und deren tragisches Schicksal in Swasiland, einem der ärmsten Länder weltweit. Ähnliches könnte man auch über den neuen Film der libanesischen Regisseurin Nadine Labaki sagen, denn eigentlich ist das, was sie in den 123 Minuten in „Capernaum“ zeigt, nicht herzeigbar, weil man sich als Zuschauer/in permanent fragt, welchen Torturen sie ihre doch sehr jungen Schauspieler/innen ausgesetzt haben muss. Doch dazu später. – „Als Jesus hörte, dass man Johannes ins Gefängnis geworfen hatte, zog er sich nach Galiläa zurück. Er verließ Nazareth, um in Kafarnaum zu wohnen, das am See liegt, im Gebiet von Sebulon und Naftali.“ (Mt 4,12–13). Das Kafarnaum aus dem Matthäusevangelium, die Wirkstätte Jesu, ist bei Labaki das heutige Beirut, ein Ort voller Chaos. „Capernaum“ hat im Arabischen auch die Bedeutung, die mit einer „ungeordneten Ansammlung von Objekten“ verbunden ist. Labakis Film ist die Geschichte der Subjektwerdung eines Kindes, das seinen Objektstatus nicht mehr akzeptieren will: Zain, ein Junge von ca. zwölf Jahren – er besitzt keine Dokumente–, ist nie zur Schule gegangen und klagt seine Eltern vor Gericht an, dass sie keine Kinder mehr in die Welt setzen sollten, weil sie sich um diese nicht angemessen kümmern können. Eine seiner geliebten Schwestern hätten sie mit elf Jahren verheiratet, sie habe die Schwangerschaft nicht überlebt. Zain spricht vor dem Richter nicht wie ein Kind, vielmehr wirkt seine Anklage so, als würde ein desillusionierter Erwachsener einen nüchternen Befund über seine Existenz abgeben. Während der Auseinandersetzung vor Gericht erfährt man, dass Zain eigentlich im Gefängnis ist, weil er den Mann, der seine Schwester geschwängert hat, mit einem Messer attackiert und schwer verletzt hat. Seine Verteidigerin wird von der Regisseurin des Films, Nadine Labaki, verkörpert. Die ganze Vorgeschichte zum Prozess, die nun folgt, ist als Plädoyer für Kinder zu verstehen, die eine „misshandelte Kindheit“ – so Labaki in einem Interview – erfahren haben.
Labaki setzt dabei auf eine extrem emotionalisierende Erzählstrategie, die sich der Empathie der Zuschauer/innen sicher sein kann, angesichts der Odyssee des jungen Zain bis zur besagten Tat. Unaufhörlich reiht sie trostlose Episoden im Überlebenskampf des Jungen aneinander, der sich in einer grausamen, gleichgültigen und zynischen Gesellschaft durchschlagen muss. Das wiederkehrende, den Film am besten resümierende Bild ist jenes mit Zain allein auf der Straße, in Auseinandersetzungen verwickelt, während im Hintergrund eine erstarrte Menschengruppe lethargisch als Beobachter fungiert. – Es ist bezeichnend für die politische Botschaft des Films, dass die einzige Figur, die Zain mit Zuneigung begegnet, eine illegal in Beirut lebende Äthiopierin ist. Auch sie ist nicht ganz selbstlos, weil sie Zain bei sich wohnen lässt, dieser aber sich um ihr Baby kümmern soll, während sie arbeitet. Fast eine Stunde verfolgt man, wie sich die beiden Kinder alleine durchschlagen müssen, nachdem die Immigrantin verhaftet worden ist.
Labaki hat in einem aufwendigen Streetcasting Schauspieler/innen mit ähnlichen Realschicksalen ausgewählt und die Drehzeit des Films auf sechs Monate ausgedehnt. Man kann nur hoffen, dass die Kinder während der Dreharbeiten psychologisch gut betreut wurden, angesichts der Situationen, denen sie ausgesetzt wurden. Ein Film wie ein Schlag in die Magengrube.
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