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Monika Helfer, die Vorarlberger Autorin, die im vergangenen Jahr mit ihrer Erzählung „Die Bagage“ die Herkunftsgeschichte ihrer Mutter nacherzählt und damit einen großen literarischen Erfolg erzielt hat, schreibt nun in dem kürzlich erschienenen Buch mit dem schlichten Titel „Vati“ die eigene Familiengeschichte auf eine höchst beeindruckende Weise fort. Josef Helfer, ein vom Krieg physisch wie psychisch schwer gezeichneter Mann, zieht als Leiter eines Kriegsopfererholungsheims mit der Familie auf die Tschengla, ein Hochplateau in den Bergen oberhalb von Bludenz. Er kann dort oben, wo nur ein paar Wochen im Jahr Erholung Suchende zu Gast sind, seinen Interessen nachgehen, vor allem seiner Bücherleidenschaft. „Wir sagten Vati. Er wollte es so. Er meinte, es klinge modern. Er wollte vor uns und durch uns einen Mann erfinden, der in die neue Zeit hineinpasste.“ Für die Kinder war es das Paradies. Doch das neue Leben endet ziemlich plötzlich mit dem Krebstod der Mutter und dem gleichzeitig aufkommenden Plan, das Heim zu einem Hotel umzubauen. Die Autorin ist elf Jahre alt, als die Familie ins Tal hinunter muss. Die Kinder werden bei Tanten untergebracht, der zutiefst getroffene Vater verschwindet in einer Klosterzelle. Geredet wird darüber nicht. Erst als die Brüder seiner verstorbenen Frau ihm eine neue Ehefrau vermitteln, kommt die Familie wieder zusammen. Monika Helfer erweist sich auch in diesem Buch wieder als Meisterin der sprachlichen Reduktion, die mit wenigen Worten das Wesentliche trifft. „Alles wirklich Wichtige kann er nicht sagen“, schreibt sie einmal. Und selbst wenn der titelgebende „Vati“ vergleichsweise wenig Platz im Buch einnimmt, zeichnet sie in ihm doch geradezu einen Prototypen der schweigenden Nachkriegsmännergeneration.
Monika Helfer: Vati, München, Carl Hanser Verl. 2021, 172 S., € 20,60.
Autobiographisch geht auch die oberösterreichische Autorin Margit Schreiner, die als Einzelkind aufwächst, an ihre Kindheit in den 50er-Jahren heran. In ihrer neuen Wahlheimat, dem Waldviertel, sitzend, erinnert sie sich an die Volksschülerin aus der Linzer VOEST-Siedlung und erfindet sie sozusagen neu. Es geht um den Alltag in der Siedlung, um die Hof- und Schulfreundschaften samt ihren Familien, um Mädchen-, Buben-, Mütter- und Väterrollen, um Eifersüchteleien, Anstand und Verschwiegenheit, um Angst und Mut, um die Macht der Sozialkontrolle und der Katholischen Kirche, um den Einzug des Fortschritts und um erste Versuche, in der Welt der Literatur Fuß zu fassen. Erzähltechnisch wechselt sie zwischen der Erinnerung und dem Alltag im Waldviertler Haus. Gewohnt humorvoll und pointiert, aber auch selbstkritisch fragt die Autorin: „Was habe ich eigentlich, sechsundsechzigjährig ... mit einer Siebenjährigen zu tun? Erfinde ich diese Siebenjährige, indem ich über sie schreibe, oder hat es sie wirklich gegeben, und wenn ja, war sie vielleicht ganz anders, als ich sie beschreibe? Ist auch nur irgendetwas daran real oder sind es Chimären ...?“ Diese Fragen muss man bei der Lektüre im Hinterkopf behalten, sonst würde man meinen, die Autorin wäre ein äußerst frühreifes Kind gewesen.
Margit Schreiner: Vater. Mutter. Kind. Kriegserklärungen. Über das Private, Frankfurt a. M., Schöffling & Co. 2021, 221 S., € 22,70.
Auch Herbert Dutzler, Jahrgang 1958 und als Autor der Altaussee-Krimis in den letzten Jahren hervorgetreten, entführt in seine Kindheit und lässt die Atmosphäre der 60-er-Jahre aufleben. Siegfried, der Protagonist, stößt beim Ausräumen der mütterlichen Wohnung auf Aufzeichnungen und Fundstücke und erzählt anhand derer seine Kindheit in einem fikiven oberösterreichischen Dorf. Es beginnt mit dem ersten Familienurlaub in Italien. Auch dort steckt Siegfried seine Nase am liebsten in Karl-May-Bücher, auch wenn er sich in der fremden Umgebung schneller zurechtfindet als die Eltern. Dann geht es um den Wechsel in die neue Schule inklusive den damit verbundenen unangenehmen Erfahrungen, denn ein guter Schüler, der ein paar Kilo zu viel hat und zudem Interessen, die dem männlichen Rollenbild der Zeit nicht ganz entsprechen, hat notgedrungen seine Schwierigkeiten.
Herbert Dutzler: Die Welt war eine Murmel, Innsbruck, Haymon Verl. 2021, 254 S., € 22,90.
Weniger romanhaft, aber nicht minder berührend legt der als Mühlviertler Kleinverleger bekannte Franz Steinmaßl seine Kindheitserinnerungen an. Der in der Gemeinde Molln im oberösterreichischen Steyrtal aufgewachsene Autor verdankt seine Erzählfreude seiner redseligen Großmutter, die die bestimmende Person in der Hausgemeinschaft seiner Kindheit gewesen sein dürfte. Seiner Profession als Geschichtsarbeiter gemäß, der sich mit seinem Verlag vor allem der Aufarbeitung lokaler Geschichte gewidmet hat, geht es ihm nicht nur um die Familiengeschichte im engeren Sinn, sondern er weiß darüber hinaus viel zu berichten. Darüber, wie die Naziherrschaft in der Gegend die Bevölkerung entzweit hat, genauso wie über das überaus harte Leben der Holzknechte und das bereits in der Zwischenkriegszeit aussterbende Gewerbe der Nagelschmiede. „In all seiner Begrenztheit soll dieses Buch eine Erinnerung an eine ausgestorbene Lebenswelt sein: die Welt der kleinen Häuslleute mit ihren zwei Kühen und der vielen Arbeit, an ihre katholische Lebensart und die sehr begrenzten Möglichkeiten, ihr Leben nach eigenen Vorstellungen zu gestalten“, schreibt Steinmaßl im Vorwort. Das ist ihm gut gelungen.
Franz Steinmaßl: Mollner Jahre. Eine Sozialgeschichte meiner Familie, Grünbach, Buchverlag Franz Steinmaßl 2020, 250 S., € 29,50.
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