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In Sveti Ivan, einem Bauerndorf in Slawonien, im Nordosten Kroatiens, nimmt der Roman 1944 seinen Anfang und endet gute 70 Jahre später an eben dieser Stelle, die allerdings kaum wiederzuerkennen ist. Auf dem Hof leben drei Generationen der Familie Quendler. Raimund, der junge Bauer, Nachkomme von Donauschwaben, ist mit der Kroatin Rosmarinka verheiratet, Raimunds Brüder sind im Krieg. In Kroatien herrscht die Diktatur der Ustascha. Als Partisanen der jugoslawischen Volksbefreiungsarmee auch den Hof bedrängen und das Leben immer gefährlicher wird, entschließt sich die Familie zur Flucht und landet schließlich in Linz, vorerst in einem Flüchtlingslager. Unter großen Anstrengungen – u. a. durch die Arbeit in einem Ziegelwerk – gelingt es ihnen, ein neues Leben aufzubauen.
Der aus dem bayrischen Rosenheim stammende und in Salzburg lebende Autor erzählt die Familiengeschichte in verschiedenen Erzählsträngen und Zeitebenen, die häufig wechseln und sich zunehmend miteinander verflechten. Das macht die 500 Seiten lange Erzählung ziemlich spannend.
Da ist einerseits die (Vor-)Geschichte der Flucht, das Ankommen in der Fremde und das Weiterleben. Ein zweiter Strang handelt von einem jungen Historiker, der die Geschichte Jugoslawiens erforscht hat und aktuell in einem Projekt Interviews mit Kindern von im Zuge der Jugoslawienkriege der 1990er-Jahre nach Österreich gekommenen Menschen führt. Außerdem lebt Arthur, der Historiker, mit der Enkelin der Quendlers in einer nicht unproblematischen Fernbeziehung. Mit dem Vater der Freundin, der 1944 ein kleines Kind war, Priester hätte werden sollen und heute mehr und mehr dem Wahnsinn verfällt, führt er einen regen Briefwechsel, in dem dessen Lebensgeschichte beschrieben wird. Dazu gibt es noch einige Nebenstränge, die das Geschehen bereichern. Für jede Zeit und alle wechselnden Protagonisten findet der Autor eine eigene, angemessene, schöne, zuweilen bildreiche Sprache.
Doch der Roman ist weit mehr als eine spannende Familiengeschichte. Er beschreibt ein Stück europäischer Geschichte, an dem deutlich wird, wie die faschistische Diktatur der 1940er-Jahre, die Kriege der 1990er und die Flüchtlingsströme von 2015 zusammenhängen. Und er zeigt eindrucksvoll, wie politische Verhältnisse in die privatesten Angelegenheiten einwirken und und über Generationen nachwirken. Ein herausragendes Buch.
Christian Lorenz Müller: Ziegelbrennen.
Otto Müller Verlag, Salzburg/Wien 2018. 502 Seiten, € 25,–. ISBN: 9783701312627
Im Herbst 1942 werden die Urgroßeltern der Autorin und ihr jüngster Sohn nach Theresienstadt deportiert und ermordet. Hansi, der ältere Sohn, damals 17 Jahre alt, verlässt rechtzeitig die elterliche Wohnung und überlebt versteckt in der Wohnung des alleinstehenden Kinderarztes Josef Feldner, der Hansi nach dem Krieg adoptiert und bis zu seinem Tod eng mit ihm verbunden bleibt. Anna Goldenberg rekonstruiert die Geschichte dieser Rettung und erzählt die Geschichte ihrer Großeltern bis heute.
Es ist berührend, wie eine noch nicht 30-jährige es schafft, so tief in die von von der Nazitragödie gezeichnete Familiengeschichte einzutauchen und dabei einen so klärenden Blick auf das Wien während der Zeit des Krieges und der Verfolgung zu eröffnen. Eindrucksvoll beschreibt sie, wie klein und unspektakulär es oftmals anfing, was in der Massenvernichtung geendet hat, wie selbst die Betroffenen nicht glauben konnten, was da auf sie zukommen sollte, wie oft unglaubliche Zufälle über Leben und Tod entschieden haben und dass es trotz allem Menschen wie Josef Feldner gab, für die es eine Selbstverständlichkeit war, zu helfen. „Ich kann mich nicht daran erinnern, nichts über den Holocaust gewusst zu haben“, schreibt die Autorin, die schon als Sechsjährige die Duschen in einem Hotel auf deren Gefährlichkeit hin untersucht hat. Es ist der persönliche Zugang der Autorin, die diese Erzählung zu etwas Besonderem macht.
Anna Goldenberg: Versteckte Jahre. Zsolnay Verlag, Wien 2018, 186 Seiten, € 20,60. ISBN: 9783552059061
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