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Der kleine Michael ist zwei Jahre alt und beobachtet die Welt. Er sitzt auf dem Schoß seiner Mama und schaut zu, wie Kinder schaukeln und Ball spielen. Seine Mutter ermuntert ihn, doch zu den anderen Kindern zu gehen. Er will nicht und bleibt lieber noch in ihrer Nähe. Die Mama seufzt. Es dauert einige Zeit, bis Michael Vertrauen fasst und sich ohne Eltern etwas traut. Ein Grund, sich Sorgen zu machen? – „Der Wunsch nach Nähe und das Erkunden der Welt gehören untrennbar zusammen“, schreiben Fabienne Becker-Stoll, Julia Berkic und Kathrin Beckh in ihrem erst kürzlich erschienen Buch „Bindung – eine sichere Basis für das Leben“. Das Buch ist ein neues Standardwerk zum Thema „Bindung“ und lässt aktuelle Erkenntnisse der Forschung einfließen.
Eine sichere Bindung hängt nicht von einzelnen Verhaltensweisen der Eltern ab, sondern zeigt sich daran, dass die Kommunikation zwischen Eltern und Kind gut funktioniert: Kann, darf das Kind seine Bedürfnisse, Ängste und Sorgen äußern, wird es wahrgenommen und gehört? Das Zuhören heißt noch nicht, dass alle Bedürfnisse erfüllt werden. Zunächst ist es für Eltern wichtig, die Bedürfnisse ihrer Kinder zu kennen und die Signale richtig zu deuten. Die Befriedigung von Grundbedürfnissen wie Essen, Kleidung und Schlaf ist dabei genauso wichtig wie die Erfüllung der emotionalen Grundbedürfnisse nach Bindung, Nähe und Schutz sowie die Erkundung der Umwelt, die Selbstständigkeit und das Lernen.
Im 20. Jahrhundert wurde das Verhalten von Kindern und die Beziehung zur Mutter vor allem aus der Sicht der „Behavioristen“ gesehen. Diese Sicht orientiert sich am Verhalten (engl.: „behaviour“) des Kindes: Das Baby zeigt Verhaltensweisen wie Lächeln oder Weinen, um bei der Bezugsperson ein bestimmtes Verhalten zu erreichen. Während man in den 1970er-Jahren noch eher Angst hatte, das Kind mit zu viel Liebe zu verhätscheln und damit abhängig von der Mutter zu machen, besagen die neuesten Ergebnisse der Bindungsforschung genau das Gegenteil: Je sicherer und gestärkter Kinder in den ersten sechs Lebensjahren durch eine verlässliche und liebevolle Bindung ins Leben entlassen werden, umso mitfühlender, selbstbewusster und verantwortungsvoller werden sie.
Kleinkinder müssen aber erst lernen, sich selbst und ihre Gefühle zu verstehen. Die Beziehung zu den Eltern ist der beste Ort dafür. Wenn das Kind weint, schreit und klagt, drückt es damit Bedürfnisse aus. Werden diese Bedürfnisse nach Nähe, Trost und Aufmerksamkeit von den Bezugspersonen wahrgenommen, lernt das Kind, sich selbst zu spüren und auszudrücken, was es braucht. Als geachtetes und geliebtes Wesen kann es sich dann vertrauensvoll in die Welt hinaustrauen. „Jedes Mal, wenn die Eltern das Kind trösten oder ermutigen, jedes Mal, wenn sie ihm bei der Erkundung der Welt zur Seite stehen, ensteht im Kind ein kleines Stückchen mehr Vertrauen in die Bindungsbeziehung und damit auch in sich selbst“, erklären dazu die Autorinnen. – Mittlerweile hat sich Michael zu den anderen Kindern in die Sandkiste getraut. Es gibt frisches Sand-Eis für die Eltern: etwas sandig, aber mit ganz viel Liebe gemacht.
Buchtipp: Bindung – eine sichere Basis für das Leben. Das große Elternbuch für die ersten 6 Jahre, Fabienne Becker-Stoll, Kathrin Beckh, Julia Berkic, Kösel Verlag 2018.
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