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Der vierjährige Sven haut andere Kinder, beschimpft sie und nimmt ihnen Spielzeug weg. Wenn ihn die Kindergartenpädagogin ermahnt, beginnt er zu toben. Will sie mit ihm darüber sprechen, grinst er und sagt, es sei ihm egal. Die Pädagogin fühlt sich überfordert. So viele Kinder brauchen ihre Aufmerksamkeit, da bleibt wenig Zeit für ein herausforderndes Kind. Es fällt ihr nicht leicht, Svens Eltern so viel Negatives über ihn erzählen zu müssen. Svens Mutter wiederum weiß, dass ihr Kind wild sein kann. Aber sie hat den Eindruck, dass er von den anderen Kindern auch nicht immer gut behandelt wird.
„Kinder wie Sven kennen alle Pädagoginnen und Pädagogen“, sagt Marina Steiner-Kohlmann. Die Psychologin arbeitet mit Kindern, die ihre aggressiven Gefühle nicht sozial verträglich ausdrücken können und das trotz pädagogischer Begleitung im Kindergarten nicht lernen können. Laut einer deutschen Studie betrifft das 15 von 100 Buben und 5 von
100 Mädchen. Sie fallen auf, weil sie immer wieder kratzen und schlagen, stören und zerstören. Die Auslöser dafür seien unterschiedlich, so Marina Steiner-Kohlmann. Ein Kind wünscht sich die Aufmerksamkeit von Erwachsenen, ein anderes will seine Grenzen austesten. Manche sind frustriert, weil ihre Erwartungen nicht erfüllt werden. Die häufigsten Auslöser sind Konflikte, wenn z. B. um ein Spielzeug gestritten wird. Es gibt Kinder, die aggressiv werden, weil sie ihre Angst vor der Trennung von den Eltern überdecken wollen oder weil sie eifersüchtig auf jüngere Geschwister sind. Belastungssituationen in der Familie können ebenfalls Auslöser sein, wenn Bezugspersonen aufgrund von Krankheit, Arbeitslosigkeit oder Trennung emotional wenig verfügbar sind.
Kinder mit Aggressionsproblemen brauchen Hilfe. Je früher, desto besser, sagt Marina Steiner-Kohlmann. Die Psychologin ermutigt Pädagoginnen und Pädagogen, bei Problemen hinzuschauen, mit den Eltern darüber zu reden und bei Bedarf professionelle Betreuung zu suchen. Je mehr pädagogische Fachkräfte über die Arten und Ursachen von Aggression wissen, desto erfolgreicher können sie eingreifen. Die Bereitschaft für aggressives Verhalten kann vererbt sein oder durch ein entsprechendes Temperament des Kindes ausgelöst werden. Komplikationen oder Rauchen in der Schwangerschaft oder das Stresshormon Cortisol können zu mehr Aggression führen. Diese nimmt zu, wenn etwa sie durch Aufmerksamkeit positiv verstärkt wird. Eine allzu strenge Erziehung oder eine Erziehung ohne Regeln baut Druck auf, der sich in Aggression entladen kann. Kinder imitieren aggressives Verhalten, vor allem jenes von Erwachsenen. Eine erhöhte Bereitschaft für Aggression zeigen Kinder mit einem hohen, aber instabilen oder übersteigerten Selbstwertgefühl.
Zurück zum Fallbeispiel des kleinen Sven: Was würde Marina Steiner-Kohlmann der zuständigen Pädagogin empfehlen? „Ein Kind wie Sven braucht professionelle therapeutische Betreuung, damit sich die Symptomatik verringert und keine neuen Schwierigkeiten auftauchen, weil er so viel aneckt.“ Manchmal brauche es mehrere Gespräche mit den Eltern, bis sie es annehmen können, dass ihrem Kind eine professionelle Betreuung guttue. Das setze einen Trauerprozess in Gang, sagt Marina Steiner-Kohlman. Eltern trauern, wenn sie erkennen, dass ihr Kind ein Problem hat und es nicht so ist, wie sie es sich wünschen. Die Psychologin rät Erwachsenen, die mit einem aggressiven Kind konfrontiert sind, grundsätzlich davon auszugehen: Ein aggressives Kind ist nicht „böse“. Es versucht, eine belastende Situation zu lösen, und braucht dabei Hilfe.
HEFO 2019
Marina Steiner-Kohlmann sprach im Rahmen der Fachtagung für Helfer/innen in kirchlichen Kindertageseinrichtungen. Die HEFO 2019 fand am 19. und
20. Februar in Bad Schallerbach statt und wurde von Caritas für Kinder und Jugendliche veranstaltet.
Zur Sache
Beim instrumentell-aggressiven Verhalten wird das Kind geplant aggressiv (indem es z. B. ein Spielzeug wegnimmt), um ein Ziel zu erreichen, andere Kinder zu dominieren oder eine unangenehme Situation zu vermeiden (toben statt aufräumen).
Beim affektiv-aggressiven Verhalten reagiert das Kind auf einen Reiz, der es zornig (oder auch ängstlich) und in weiterer Folge aggressiv macht.
Beim impulsiv-aggressiven Verhalten hat das Kind ein Problem, seine Handlungen zu kontrollieren. Es handelt, ohne nachzudenken und ohne davon zu profitieren.
Neben den drei klassischen Typen werden noch folgende Formen regelmäßig in Kindergärten beobachtet:
Verdeckte Aggressionen umfassen Handlungen, die im Verborgenen stattfinden, indem das Kind ein anderes heimlich haut oder aggressiv in Spielthemen oder in Zeichnungen ist.
Bei der umgeleiteten Aggression wendet sich das Kind gegen eine Person, mit der es eigentlich kein Problem hat. Das Kind darf z. B. nicht mitspielen und haut dafür ein unbeteiligtes Kind.
Die relationale Aggression wird häufig bei Mädchen beobachtet und umfasst Handlungen, die Freundschaften oder Gruppenzugehörigkeiten zerstören sollen („Du bist nicht mehr unsere Freundin“).
Buchtipps für pädagogische Fachkräfte:
„Kleine Schritte – Große Wirkung. Handbuch zum Umgang mit kindlichen Entwicklungsauffälligkeiten, Verlag Unsere Kinder, Linz 2017,
Susanne Ristl: Mein Weg zur Professionalität. Arbeits- und Reflexionsleitfaden für Ausbildung und Beruf. Verlag Unsere Kinder, Linz 2017.
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