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Österreich ist ein vergleichsweise kleines Land mit vielen Dialekten. Wie viele Dialekte es genau gibt, ist nicht einfach zu beantworten. „Es hängt davon ab, wie genau Sie hinschauen“, sagt Soziolinguist Manfred Glauninger, der an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) forscht und an der Universität Wien lehrt.
Zum einen sei ein Sprach- bzw. Dialektraum ein Kontinuum, „eine Sprachform geht in die nächste über“. Zum anderen hänge die Definition davon ab, welche und wie viele Merkmale unterschieden werden sollen: die lautliche Ebene, der Wortschatz, die Grammatik? „Je nachdem welche Kriterien man anwendet, kommt man zu einer unterschiedlichen Anzahl an Dialekten.“
Hinzu komme noch, dass die Sprecher:innen subjektiv andere Einteilungen vornehmen als die Wissenschaft, die „von außen“ draufblickt. Forscher:innen sprechen z. B. von einem bairischen Dialektraum in Österreich, benannt nach dem Germanenstamm der Baiern aus dem Frühmittelalter. Als „bairisch“ würden die Österreicher:innen ihre Dialekte aber selbst nie bezeichnen, meint der Experte.
Dass in Österreich so unterschiedliche Dialekte gesprochen werden, hat auch historische und politische Gründe. „Es ist nie dazu gekommen, dass alle deutschsprachigen Menschen in einem Staat zusammenleben. Lange Zeit war der deutsche Sprachraum ein Fleckerlteppich von Fürstentümern, Grafschaften, Bistümern usw. Also viele, oft kleine politische Zentren, und das hat die Homogenisierung der dialektal vielfältigen Sprache aufgehalten“, sagt Glauninger. Eine relativ einheitliche Standardsprache hat sich erst im 19. Jahrhundert herausgebildet.
Die Vielfalt von sprachlichen Ausprägungen habe auch mit der Topografie Österreichs zu tun, erklärt der Soziolinguist: „Im hochalpinen Raum waren früher die Verkehrsmöglichkeiten eingeschränkt, was zu weniger Kontakt und Kommunikation abseits von Kleinregionen führte. Im Osten Österreichs dagegen gab es schon früh entlang der Donau viel Verkehr und Austausch, das hat sich – neben dem Einfluss der Millionenstadt Wien – dialektal entsprechend ausgewirkt.“
Da Sprache etwas Lebendiges ist und sich deshalb ständig wandelt, ist es wenig verwunderlich, dass manche Dialekte verschwinden. Manche beklagen dies als „Dialektsterben“. Dieses Gefühl von Nostalgie und Verlust könnte damit zu tun haben, dass die Vergangenheit gerne verklärt und glorifiziert werde, sagt Glauninger. „Fällt einem die Veränderung in der Sprache auf, wird einem gleichzeitig bewusst, dass man älter wird.“ Sprache allein sei zwar nicht alles, was eine Person ausmacht, doch sei sie sicher eine der wichtigsten Komponenten der eigenen Identität. „Es gibt Menschen, die sagen, nur wenn ich Dialekt spreche, bin ich ich“, sagt Glauninger. Heute sei die Mundart vielfach ein Teil des bunten Sprachrepertoires der Menschen, so wie Hochdeutsch, die Fachsprache im Beruf, die Umgangssprache oder Englisch. Und wo es früher viele kleinräumige Dialekte gab, spreche man heute eher von größeren Dialekträumen. Teilweise, in Wien etwa, würden Kinder gar nicht mehr in der Mundart sozialisiert und Dialekt werde eher negativ bewertet, anders als noch im Westen, wo man den Dialekt oft mit Stolz spreche.
Am Phonogrammarchiv der ÖAW gibt es eine Sammlung von mehreren tausend historischen Dialektaufnahmen aus insgesamt etwa 120 Jahren. Diese wurden in den letzten Jahren zu einem Großteil digitalisiert und systematisiert. Mit dem Projekt sollen frühere Sprachvarietäten dokumentiert und der Wissenschaft sowie einem breiteren Publikum zugänglich gemacht werden.
Projektwebsite mit Hörbeispielen
Projektcluster „Wörterbuch der bairischen Mundarten in Österreich“
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