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„Entdecke dein Potenzial“, „Mache mehr aus dir“, „Werde, die du bist!“: So lauten die Titel der Kurse, die Sarah, sie ist Mitte 40, zurzeit absolviert. Auch Irene, eine Freundin, die schon um einige Jahre älter ist, hat an den Wochenenden wieder viel zu tun. Die Kinder sind groß und außer Haus. Plötzlich ist da viel freie Zeit, die es vorher nicht gab. Ein Yoga-Schnupperkurs ist angesagt, ein Blumensteck-Seminar, Töpfern, Kreistanz. Kürzlich wurde sie angeleitet, ihre Selbstheilungskräfte zu entdecken.
Obwohl den beiden Frauen die Angebote gefallen und sie viele verborgene Talente ausleben können, fühlen sie sich zusehends etwas müde und ausgelaugt. So viel Selbstverwirklichung ist anstrengend. Ein Trend, den auch Soziologinnen und Soziologen beobachten. Das Bemühen aus seinem Leben etwas Einzigartiges zu machen, überfordert viele, und nicht alle können mit: Weil die Zeit fehlt oder nicht so viel Geld am Konto ist, um all diese Angebote zu nutzen. Der Soziologe Andreas Reckwitz hat diesen Trend in seinem Buch „Die Gesellschaft der Singularitäten“ beschrieben. Weg von Massenproduktion und gleichen Lebensbedingungen für alle, hin zur Kultur der Einzigartigkeit, des Singulären. Sein Buch war für den Leipziger Buchpreis 2018 nominiert, die Jury meinte dazu: „Ob privat oder öffentlich: Befeuert vom Kulturkapitalismus will man heute in westlichen Gesellschaften stets das Besondere.“ Andreas Reckwitz schildere in seinem Buch anschaulich, wie der Drang zum Singulären und zum Besonderen eine neue Klassengesellschaft erzeuge: „Mit neuen Konflikten zwischen Eliten und Abgehängten“, so die Jury.
Wer sich heute nicht besonders kreativ kleidet, keine ausgefallenen Hobbys hat, nicht mit Fernreisen in exotische Länder aufwarten kann, scheint schnell als mittelmäßig und langweilig zu gelten. Eine Entwicklung, die in den 1970er-Jahren begonnen und und sich in den letzten 20 Jahren verstärkt hat. Wer früher zu individuell, zu besonders war, wurde als schräger Vogel eingeordnet. Der viel zitierte Wertewandel bedeutet: „Weg von den Pflicht- und Akzeptanzwerten und hin zu den Selbstverwirklichungswerten. Jetzt ist es wichtig, dass man seine Besonderheit als Individuum entfaltet“, beschreibt Reckwitz in einem Interview die Situation. Die Selbstverwirklichung ist Pflicht und zur sozialen Norm geworden.
Sein Leben möglichst befriedigend zu leben, heißt aber auch, sich immer wieder fragen zu müssen: Läuft hier noch alles optimal? Ginge es nicht noch besser, schöner, erfüllender? Das hat zur Folge, dass Beruf, Partnerschaft, Freizeitgestaltung ständig hinterfragt und gegebenenfalls verbessert werden müssen. Doch trotz aller Veränderungen bleibt das Unberechenbare im Leben: Menschen werden krank und sterben, Partnerschaften zerbrechen, Berufskarrieren werden abrupt beendet. Was tun mit diesen Grenzerfahrungen? – Hier sieht der Soziologe die Chance der Religionen.
Sie bieten die Möglichkeit, mit diesem Unverfügbaren im Leben, mit Scheitern und Versagen trotz aller Bemühungen sinnvoll umzugehen.
„Rein funktionalistisch gesehen haben Religionen in dieser Hinsicht einen wichtigen Ort“, so Andreas Reckwitz. – Und die befreiende christliche Botschaft dazu lautet nicht: „Sei einzigartig!“, sondern: „Du bist einzigartig!“ «
Buchtipp: Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten.Zum Strukturwandel der Moderne, ISBN 978-3-518-58706-5.
Vgl. Interview in der Herder Korrespondenz, Juni 2018.
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