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Anders als bei einem individuellen Wiegenfest ist das Neujahr ein Zeitumschwung, der alle zugleich betrifft. Man fiebert gemeinsam dem Moment entgehen, wenn das Alte zu Ende geht und das Neue beginnt. Und dann, mit dem Schlag und dem Klang einer Glocke, der Pummerin des Stephansdomes, schwingt man hinüber über diese magische Schwelle. Anders als der Tages-, Wochen- und Monatswechsel macht der Jahreswechsel bewusst, dass etwas unwiederbringlich vorbei ist und zugleich auch anderes neu möglich wird. Eben wie bei einem Geburtstag. Nur „haben“ den Jahreswechsel alle gleichzeitig.
In einem Interview in den Weihnachtsferien erzählte der Kabarettist und Theologe Stefan Haider, dass für ihn ein Vers aus Psalm 90 ganz wichtig für seine Existenzdeutung geworden sei (Vers 12): „Unsere Tage zu zählen, lehre uns! Dann gewinnen wir ein weises Herz.“ Er habe sich vor einigen Jahren gefragt, wie alt er werden möchte, und hat dann nachgerechnet, wie viele Tage das noch wären. Und es ist für uns, die wir es gewohnt sind, Zahlenwerte in Hundertausenden und mehr regelmäßig vor Augen zu haben, seltsam, plötzlich zu merken, dass auch in 80 Jahren die Anzahl der Lebenstage nicht 30.000 übersteigt. Das ist irgendwie viel und trotzdem gar nicht so üppig.
Beim Tagezählen, geht es nicht nur um einen (eventuell angstvoll) abgemessenen Zeitraum und ein Wieviel (wie viel Zeit bleibt noch?). Gerade auch im Rückblick zeigt sich: Was zählt in meinem Leben? Was hat Gültigkeit, was Bedeutung? Was bestimmt mich? Und vielleicht auch: Zu wem zähle ich, wem gehöre ich und auf wen kann ich zählen, mich verlassen? Was ist zentral und entscheidend in meinem Leben und gibt ihm Gewicht? Wer hier beginnt, sich zu orientieren und Wertigkeiten zu bestimmen und ganzheitlich zu reflektieren, bei dem kann sich im Laufe des Lebens ein Herz der Weisheit einstellen. Die weitreichenden Perspektiven Gottes sind dabei gute Lehrmeister. Für den Jahresbeginn passt daher das Ende von Psalm 90 wunderbar (Vers 17): „Güte und Schönheit des Herrn, unseres Gottes, sei über uns! Lass gedeihen das Werk unserer Hände, ja, das Werk unserer Hände lass gedeihn!“
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