Wort zum Sonntag
Die Menschen im Ahrtal im Landkreis Ahrweiler in Rheinland-Pfalz waren von dieser Flut besonders stark betroffen – und sind es immer noch. Einer von ihnen ist Pfarrer Jörg Meyrer. Er erzählt von den traumatischen Erlebnissen, die er auch in seinem Buch „Zusammenhalten. Als Seelsorger im Ahrtal.“ niedergeschrieben hat.
Wenn Sie zurückdenken an die Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 im Ahrtal – wie haben Sie diese dramatische Flutkatastrophe erlebt?
Jörg Meyrer: Wenn Sie danach fragen, kommen sofort die Bilder wieder in den Kopf. Bei mir war das Wasser im Pfarrhaus „nur“ im Erdgeschoß. Ich hatte keine Todesangst, konnte auch aus dem Haus raus und war nicht eingeschlossen. Ich habe dann in dieser Nacht bei der Feuerwehr in Bad Neuenahr-Ahrweiler bei Evakuierungsarbeiten mitgeholfen, denn wir wussten von Vorhersagen, dass die Ahr den Pegelstand von sieben Metern erreichen wird – sonst hat sie etwa 60 Zentimeter. Etwas Schreckliches stand bevor, aber was das wirklich bedeuten würde und dass in dieser Nacht Menschen sterben, hat niemand erfasst, auch die Kameraden von der Feuerwehr nicht. Dass ein romantisches Bächlein zu einem Strom wird, der Häuser und Autos mitreißt, Mauern niederreißt und mehr als 60 Brücken zerstört, das ist für mich immer noch unfassbar. Es war kein Hochwasser, es war eine Flutwelle. Damit hat niemand gerechnet. Das kam sprunghaft.
Wie ein Tsunami, schreiben Sie in Ihrem Buch ...
Meyrer: Unvermittelt. Deshalb sind auch so viele Leute in ihren Kellern und in Tiefgaragen gestorben, weil sie einfach nicht mehr rauskamen. 134 Menschen sind in der Flutnacht im Ahrtal in Rheinland-Pfalz ums Leben gekommen. Zwei werden immer noch vermisst.
Ich habe in Ihrem Buch gelesen von einer Frau, die sich die ganze Nacht an einem Laternenpfahl festhielt, nachdem sie aus ihrem Haus gespült wurde. Hat sie überlebt?
Meyrer: Ja, Gott sei Dank. Es gibt dramatische Geschichten. Viele haben in dieser Nacht mit dem Tod gekämpft. Kürzlich habe ich eine Geschichte gehört von einem Mann, der vier Stunden an einem Geländer hing. Ich weiß nicht, wie man das so lange aushält und welche Traumata da durch die Menschen gehen. Das muss unerträglich sein. Für ihn war das Schlimmste, dass er nicht wusste, wo seine Frau ist, weil sie getrennt wurden. Sie haben sich dann wiedergefunden und einander geschworen, nie mehr auseinanderzugehen, wenn es irgendwie kritisch wird.
Wie sind Sie den Menschen beigestanden?
Meyrer: Ich war einfach da – so wie viele andere auch. Ich glaube, es geht in Notsituationen, sei es diese Flut, eine schwere Krankheit oder der Tod eines lieben Menschen, zuerst einmal ums Zuhören und darum, dem Betroffenen zu signalisieren, du darfst so sein, wie du bist – enttäuscht, verletzt, krank, verzweifelt. Das ist die erste Hilfe. Und wenn man dann noch ein weiteres Wort dazulegen kann, ist das schon viel. In den ersten Wochen nach der Flut war es in den meisten Fällen das Zuhören oder eine stumme Umarmung. Man war froh, dass man sich wiedergesehen hat. Viele Menschen haben auch mich umarmt, weil sie mich kennen. Ich bin seit 20 Jahren Pfarrer hier im Ahrtal. Da gab es nicht viel Scheu abzubauen oder Mauern zu überwinden, als ich plötzlich mit Gummistiefeln im den Vorgärten der Leute stand, um nach ihnen zu sehen.
Da sind sicher viele Tränen geflossen ...
Meyrer: Viele Tränen. Und die kommen bis heute immer wieder. Es gibt auch zahlreiche Rückmeldungen auf mein Buch. Manche erzählten, sie haben beim Lesen viel geweint und konnten gar nicht weiterlesen. Es rührt die eigenen Erinnerungen noch einmal auf. Es ist auch für mich immer nach wie vor ein Herantasten an ein traumatisches Erlebnis. Sich dem Ausmaß der Katastrophe zu stellen, geht langsam. Viele nehmen therapeutische Begleitung in Anspruch, auch ich.
Ist Ihr Glaube durch dieses Ereignis ins Wanken geraten?
Meyrer: Der Glaube nicht, der Ausdruck meines Glaubens. Wenn das Fundament weggezogen wird, auf dem ich stehe und wenn alle Sicherheiten wegbrechen, dann kann mein Glaube da nicht unverändert durchgehen. Er musste sich auch rütteln und neu zusammenfinden. An Gott gezweifelt habe ich nicht, aber ich hatte plötzlich keine Worte mehr gehabt für ihn. Es hat eine Weile gebraucht, bis ich wieder beten konnte. Geholfen haben mir dabei Menschen, die mit mir und für mich gebetet haben, die für uns gebetet haben. Was im katholischen Glauben Stellvertretung heißt, habe ich dadurch noch einmal neu erfahren. Dass es wirklich trägt, wenn Menschen stellvertretend für andere beten, das war ein riesiger Schatz.
Es gab viele Helfer, die ins Ahrtal gekommen sind. Das Zusammenhalten nennen Sie in Ihrem Text auch „das Wunder der Helfer. Das Licht in der schwarz-braunen Dunkelheit. Die Engel in der Schlamm-Hölle.“ ...
Meyrer: Es sind hilflose Versuche, das zu würdigen und irgendwie ins Wort zu packen, was allein 130.000 ehrenamtliche Helfer, Freunde, Bekannte, Verwandte, Fremde, für uns getan haben. Dazu kamen mehr als 100.000 Helfer aus der Blaulichtfamilie – Bundeswehr, Rotes Kreuz, Technisches Hilfswerk, Polizei. Sie alle haben Unglaubliches geleistet. Dafür sind wir sehr dankbar.
Man kann sich nicht vorstellen, wie es ist, sich hautnah dieser Flut stellen zu müssen, ihr nicht entkommen zu können und nun all die Schicksalsschläge zu tragen, die sich dadurch aufgetan haben ...
Meyrer: Im Ahrtal im Landkreis Ahrweiler leben rund 56.000 Menschen, davon sind mehr als 40.000 von der Flut betroffen. Alles war überflutet. Die Schäden sind massiv. Viele Menschen, die nah an der Ahr wohnen, haben das Wasser bis in den zweiten Stock gehabt und all ihr Hab und Gut verloren. In den kleineren Weindörfern an der Ahr werden immer noch Häuser abgerissen. Monate haben Menschen versucht, ihr Zuhause wieder aufzubauen. Jetzt bekommen manche von ihnen gesagt, ihre Häuser müssen doch abgerissen werden – weil die Schadstoffbelastung so groß ist etwa wegen Öl in den Mauern oder weil die Stabilität letztlich nicht gewährleistet werden kann. Dazu kommt, dass in manchen Tälern viele Betroffene noch gar nicht wissen, ob sie überhaupt wieder aufbauen können, ob das Geld dafür reicht, ob sie die Zuschüsse bekommen, die sie erhoffen.
Die Aufbauarbeiten sind also nach einem Jahr immer noch nicht abgeschlossen ...
Meyrer: Genau. Die wenigsten konnten in ihren gefluteten Wohnungen bleiben und sind noch in Wohncontainern oder Ferienwohnungen untergebracht. Leute sind auch weggezogen. Viele leben in halben Häusern im Obergeschoß und haben sich da irgendwie zurechtgefunden. Da gibt es erstaunliche Aushaltemanöver. Ein 80 Jahre alter Herr hat mir erzählt, dass bei ihm und seiner kranken Frau erst jetzt nach einem Jahr wieder warmes Wasser fließt. Beide haben im oberen Stock ihres Hauses die ganze Zeit kalt geduscht oder sich mit Kochplatten Wasser warm gemacht. Unglaublich. Viele Häuser sind noch im Rohbau. Es mangelt an Handwerkern und Materialien und die Verteuerung ist durch die Lage in der Welt enorm. Wenn jeder einen Elektriker, Fliesenleger oder Verputzer braucht, dann erschöpft sich das und es sind letzten Endes zu wenige. Da geht nichts voran.
Da braucht es Geduld ...
Meyrer: Ja, wir versuchen, das Beste daraus zu machen. Ich glaube aber auch, dass wir Menschen unser Leben ändern müssen, denn die Folgen des Klimawandels sind immer deutlicher zu spüren. Jeder von uns sollte auf seinen ökologischen Fußabdruck achten und versuchen, nachhaltiger zu leben. Einfacher zu leben. Bewusster zu leben. «
Buchtipp: Jörg Meyrer „Zusammenhalten. Als Seelsorger im Ahrtal.“, Bonifatius Verlag, erschienen am 15. Juni 2022, Euro 20.
Zu Bild 3: Pfarrer Jörg Meyrer (66) studierte Philosophie und Theologie in Trier und Freiburg. 1988 erhielt er die Priesterweihe. Nach einigen Jahren als Kaplan und Vikar wurde er Pfarrer dreier Gemeinden im nördlichen Rheinland-Pfalz. 2002 übernahm er die Pfarrstelle der Katholischen Pfarrgemeinden in Ahrweiler und in Ramsbach, die 2011 Teil der Pfarreiengemeinschaft Bad Neuenahr-Ahrweiler wurde.
Zu Bild 4: Im historischen Stadtkern von Ahrweiler sind wegen Sanierungsarbeiten immer noch viele Eingänge und Fenster von Häusern mit Holzplatten abgedichtet. In dem touristischen mittelalterlichen Städtchen haben erst seit kurzem drei Restaurants, zwei Geschäfte, ein Friseur und ein Bäcker wieder geöffnet. Erste Gäste kommen wieder. „Das hilft uns“, sagt Pfarrer Jörg Meyrer.
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