Wort zum Sonntag
Das 19. Jahrhundert steht für eine Abwendung der Kirche von der modernen Welt und die Konzentration auf den Papst, wie sie sich unter anderem im Dogma von der Unfehlbarkeit ausdrückt. Wie kam es dazu?
Hubert Wolf: Radikale Vertreter der Französischen Revolution, der Aufklärungsphilosophie und der neu entstehenden Staaten wollten den Katholizismus von der Landkarte entfernen. Dazu schufen sie sogar einen ganz neuen Kalender. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden verschiedene Modelle praktiziert, um auf diese Herausforderungen zu reagieren: Es gab eine katholische Aufklärung. Es gab die Romantik als Flucht in eine ideale Welt. Es gab einen pragmatischen Zugang, der auf die Zusammenarbeit mit den Staaten setzte oder auch eine knallharte Restauration. Und es gab den Ansatz, der davon überzeugt war: Wir müssen unsere Identität ganz neu erfinden. Dieser setzte sich letztlich durch. Wobei diese Bewegung zunächst nicht von Rom ausging. Die „Ultramontanen“, wie sie genannt werden, – also jene, die sich über die Alpen hinweg Rom zuwenden – kamen aus Frankreich und Deutschland. Die Kirche sollte zu einem auf den Papst konzentrierten Kampfverband werden. Der Preis war hoch: Kirche und Moderne wurden für inkompatibel erklärt.
Es gab aber auch Widerstand. In dieser Situation sagte Papst Pius IX.: „Ich bin die Tradition, ich bin die Kirche.“ Was bedeutet das?
Wolf: Das ist ein wichtiger Teil der Neuerfindung des Katholizismus. Das Konzil von Trient (1545–1563) hatte ja gegen die Protestanten betont, dass es neben der Bibel auch die Tradition als zweite Bezeugungsinstanz des Glaubens gibt. Dieser lebendige Traditionsstrom sorgt in ständigen Aktualisierungsprozessen dafür, die Botschaft Christi durch die Jahrtausende gegenwärtig zu halten. Wenn Pius IX. behauptete, er sei die Tradition, dann widersprach das dem katholischen Traditionsverständnis. Der Unterschied zwischen Tradition und Traditionalismus ist ja, dass Tradition ein dynamischer Prozess ist, der Traditionalismus aber einen bestimmten Zeitpunkt als ewig festhalten will.
Aber wie gelang es Pius IX. und seinem Kreis, das durchzusetzen?
Wolf: Die Gegner des neuen Dogmas hatten überzeugende Argumente aus der Tradition der Kirche: Dogmatisiert darf nur werden, wenn eine Wahrheit des Glaubens massiv bestritten ist. Das war bei der Verehrung des Papstes 1870 dezidiert nicht der Fall. Zudem wies Bischof Hefele aus Rottenburg nach, dass Papst Honorius I. im 7. Jahrhundert häretisch gelehrt hatte und durch ein Konzil als Ketzer verurteilt worden war. Wenn ein Papst in einer Glaubensfrage nachweislich geirrt hat, kann der Papst an sich nicht unfehlbar sein. Eine Mehrheit der Bischöfe auf dem I. Vatikanischen Konzil argumentierte darauf lapidar: Das mag historisch richtig sein, aber dann müsse halt das Dogma die Geschichte besiegen. Argumente, die sich auf die Tradition stützten, wurden niedergebügelt, zum Teil auch in der Konzilsaula niedergeschrien.
Pius IX. konnte nur mit zwei Sondererlaubnissen überhaupt Priester werden. Er hat nie ein Seminar besucht und seine theologische Bildung war bescheiden. Ist er der negative Beweis für die berühmte, positiv gemeinte Aussage von Papst Johannes XXIII., dass jeder Papst werden könne?
Wolf: Von seiner Biografie her erscheint Pius IX. zunächst eher ungeeignet. Aber im Vergleich zu seinem Vorgänger Gregor XVI., einem schroffen Hardliner, galt er bei seiner Wahl 1846 als Liberaler. Außerdem war er als Mensch sympathisch. Er wurde Papst in einer Zeit, in der man erstmals mit dem Zug nach Rom fahren konnte, wo eine persönliche Begegnung möglich wurde. Es erschienen erstmals massenweise Fotografien des Papstes, die Menschen in den Herrgottswinkeln ihrer Stuben anbrachten. Mit Pius IX. trat eine neue Form des Papsttums auf, die auf charismatische Herrschaft setzt. Jetzt war es nicht mehr das Amt, sondern die Person, die den Papst ausmachte. Die Menschen projizierten ihre Wünsche und Hoffnungen auf ihn, unabhängig davon, ob er diesen gerecht werden konnte oder nicht. Pius, der Liebe und Zustimmung brauchte, wurde dadurch steuerbar. In den ersten zwei Jahren seines Pontifikats, als liberale Kirchenmänner sein Ohr hatten, ließ er sich zum Befreier stilisieren. 1848 konnte er jedoch den Hoffnungen bei der Einigung Italiens nicht mehr entsprechen, die Stimmung kippte und er musste aus Rom fliehen. Das war eine traumatische Erfahrung für ihn: Ab 1848 hatten nur noch Hardliner sein Ohr, er wurde jetzt zur idealen Projektionsfläche der Ultramontanen.
In Pius‘ Umfeld tauchte auch der Theologe Josef Kleutgen auf, obwohl dieser ein verurteilter Häretiker und in einen obskuren Skandal um Sex und Mordversuch in einem römischen Frauenkloster verwickelt war. Kleutgens Namen findet man später in drei Fußnoten im Dokument „Lumen gentium“ des II. Vatikanischen Konzils. Braucht die Kirche da nicht eine Aufarbeitung?
Wolf: Natürlich, aber kirchenhistorisch gibt es die schon. Bei Kleutgen sehen wir eine kranke Form von Frömmigkeit: Er hat tatsächlich zeitweise geglaubt, dass die Gottesmutter im Himmel Briefe schreibt, die einen Mord anordnen. Dieser Mann galt später als Vater der neuscholastischen Theologie, die im Zuge der Neuerfindung des Katholizismus im 19. Jahrhundert bis zum Zweiten Vatikanum als einzig legitime Theologie angesehen wurde. Es wurde also auch die Theologie neu erfunden, alle anderen Ansätze wurden einfach für unkatholisch erklärt.
Manchmal wird Pius‘ Nachfolger Leo XIII. gelobt, weil er die Unfehlbarkeit nicht ausgenützt habe. Das kam erst wieder bei Pius XII. und der Verkündigung des Dogmas von Mariä Himmelfahrt 1950. Stimmt das?
Wolf: Nein, denn die Unfehlbarkeit hat zwei Seiten. Es stimmt zwar, dass die feierliche Form der Dogmatisierung bislang nur einmal unter Pius XII. genutzt wurde – aber gerade nicht so, wie sich das Pius IX. vorgestellt hatte: Pius XII. fragte nämlich vor der Dogmatisierung die Bischöfe und agierte nicht im Alleingang. Die andere Seite der Beschlüsse des Vatikanum I ist das ordentliche Lehramt – und im Sinne dieses Lehramts schrieb Leo XIII. Enzykliken ohne Ende, die immer „unfehlbarer“ wurden. In diesem ordentlichen Lehramt existiert heute eine Form der Unfehlbarkeit, die erst das Zweite Vatikanischen Konzil definiert hat. So hat etwa Johannes Paul II. als Sprecher aller Bischöfe die Unmöglichkeit der Frauenpriesterweihe erklärt.
Hat angesichts dieser Nachwirkungen das 19. Jahrhundert in der katholischen Kirche besonders lang gedauert?
Wolf: Vielleicht ist es noch gar nicht zu Ende. Das Zweite Vatikanische Konzil hat ja die Unfehlbarkeit und den Jurisdiktionsprimat des Papstes bestätigt.
Wie sollen wir mit diesem Erbe umgehen? Sollte es nicht zu einer freieren Debatte führen?
Wolf: Auf jeden Fall! Wir müssen ohne Scheuklappen diskutieren. Lasst uns doch die unterdrückten Traditionen der Kirche heben – wir wären überrascht, wie viele alternative Modelle es gab: Das böte mehr Identifikationsmöglichkeiten für Menschen, die aus Frust der Kirche den Rücken kehren. Wir hatten und haben immer noch ganz selbstverständlich verheiratete Priester in der Kirche. Wir hatten Äbtissinnen, die ohne Weihe Diözesen geleitet haben. Wir müssen über den Diakonat der Frau reden … Reformen gehen nicht gegen die Tradition, sondern nur mit ihr. Der Punkt ist, dass diese nicht zum Traditionalismus verengt werden dürfen. Der Strom der Tradition ist lebendig. Alles Starre, Unbewegliche widerstrebt dem Wesen der Kirche und dem Geist, der sie führt.
Die Erfindung des Katholizismus im 19. Jahrhundert
Das neue Buch des Kirchenhistorikers Hubert Wolf als Biografie zu bezeichnen, täte dem Werk Unrecht. Natürlich beschreibt er auch die – überraschende – Lebensgeschichte des als Epileptiker zunächst in seinem Fortkommen gehemmten Giovanni Maria Mastai Ferretti, der 1846 Papst wird. Noch interessanter ist aber die Darstellung der Zeitumstände, welche ab der Mitte des 19. Jahrhunderts zu Veränderungen in ganz Europa und auch in der Kirche führen. Dort führt diese Entwicklung am I. Vatikanischen Konzil zum Jurisdiktionsprimat (der höchsten Rechtsgewalt) und zum Dogma der Unfehlbarkeit des Papstes. Wolf zeigt, wie die Kirchentradition und insbesondere das Tridentinische Konzil zu diesem Zwecke zurechtgebogen, ja „Traditionen“ erfunden werden. Beeindruckend ist dabei, wie moderne Möglichkeiten der Reise und der Publizistik dazu beitragen, die charismatische Herrschaft des Papstes zu stärken und wie sie die Abwendung von der modernen Welt im geistigen Bereich unterstützen. Dazu kommt, dass Pius IX. mit 31 Jahren und 8 Monaten das längste Pontifikat gestalten konnte.
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