Mira Stare ist promovierte Bibelwissenschaftlerin an der Kath.-Theol. Fakultät der Universität Innsbruck und Pfarrkuratorin.
Vor einiger Zeit erzählten Eltern mir, dass ihre 20-jährige Tochter mit ihnen gebrochen hatte. Zunächst hatten die Eltern alles versucht, um den Bruch zu kitten. Kein Weg war ihnen zu weit. Doch es tat sich keine Tür auf. Irgendwann mussten sie der schmerzhaften Tatsache ins Auge sehen, dass ihr Kind nichts mehr mit ihnen zu tun haben will. Jetzt gilt es nicht mehr, dass sie für einen Neustart in ihrer Beziehung kämpfen, sondern nun ist ein anderes Ringen gefragt: ein Ringen mit sich selbst. Nämlich, dass sie den Wunsch loslassen, dass alles wieder so sein wird wie vorher. Dass sie den Kontaktabbruch akzeptieren.
In solchen Situationen – in die wir alle einmal geraten – geht es nicht mehr darum, den eigenen Willen durchzusetzen, sondern darum, sich loszulassen. Und das ist wohl die größte Herausforderung: Dass ich die Zügel aus der Hand gebe und mich einem Geschehen überlasse, das ich nicht mehr selbst steuern und machen kann.
Doch genau hier, an diesem Tiefpunkt, kann (nicht: muss) es zu einer ungeahnten Wende kommen. Wie beim Buchstaben U wird der Tiefpunkt zum Wendepunkt. Das innere Chaos lichtet sich und es wächst die Hoffnung: Was ich gerade erleide, sind Geburtswehen neuen Lebens.
Voll Staunen erlebte dies ein Mann, der sein zweites Kind durch einen Unfall verloren hatte. Seine Frau wurde psychisch krank und er musste funktionieren und stark sein, um Beruf und Familie zu managen. Seine eigene Verzweiflung und Trauer fanden über Jahre hinweg keinen Raum. Während einer spirituellen Schweigewoche stellte er sich in einer Meditation die Szene vor Augen, wie er seine tote Tochter in den Armen hält. Dabei konnte er alle Selbstbeherrschung und Härte gegen sich selbst loslassen. Jetzt rollte sein jahrelang vergrabener Schmerz wie eine Welle über ihn hinweg. Nach ein paar Tagen fühlte er sich eigentümlich erleichtert. Schmerz und Trauer waren zwar noch da, doch zugleich kam es ihm vor, als sei eine schwere Last von ihm abgefallen. Sein Eispanzer aus Selbstkontrolle und Willensstärke war geschmolzen. Seine weiche und sensible Seite, die er so lange in sich vergraben hatte, war ihm neu geschenkt worden. Er konnte wieder freier atmen.
Dass sich etwas wandelt, das machen und bewirken nicht wir selbst. Vielmehr wird ein solcher Durchbruch immer auch als ein Geschenk erlebt. Das Wunder der Neugeburt bleibt eine Gnade. Hier wirkt eine Kraft, die größer ist als wir. Eine göttliche Kraft. „Wenn du lange genug gegangen bist, wird das Wunder geschehen, weil das Wunder immer geschieht und wir ohne die Gnade nicht leben können.“ (Hilde Domin)
Und wenn nach einer langen dunklen Nacht ein unverhoffter Morgen anbricht, dann habe ich persönlich oft den Eindruck: Ich bin mir selbst ein Stückchen ähnlicher geworden.
Zum Foto: An einem Tiefpunkt kann es zu einer Wende kommen. „Wenn nach einer langen dunklen Nacht ein unverhoffter Morgen anbricht, dann habe ich persönlich oft den Eindruck: Ich bin mir selbst ein Stückchen ähnlicher geworden“, sagt Melanie Wolfers.
Mira Stare ist promovierte Bibelwissenschaftlerin an der Kath.-Theol. Fakultät der Universität Innsbruck und Pfarrkuratorin.
Birgit Kubik, 268. Turmeremitin, berichtet von ihren Erfahrungen in der Türmerstube im Mariendom Linz. >>
Jetzt die KIRCHENZEITUNG 4 Wochen lang kostenlos kennen lernen. Abo endet automatisch. >>