Beide Seiten, Israelis und Palästinenser, mobilisieren im Namen Gottes. Das macht den Kampf noch unerbittlicher, wenn die Welt in Gläubige und „Ungläubige" aufgeteilt wird. Das sagt Nahostexpertin Karin Kneissl.
Ausgabe: 2014/49, Nahostexpertin, Karin Kneissl, Israel, Anschläge
02.12.2014 - Interview: Susanne Huber
In Israel und den Palästinensergebieten kam es in letzter Zeit verstärkt zu Unruhen und Anschlägen – ausgelöst durch den Streit über die Nutzung des Tempelbergs in Jerusalem. Dieser Ort ist sowohl Juden als auch Muslimen heilig. Beten dürfen dort aber nur Muslime ... Karin Kneissl: Provokationen rund um den Tempelberg, wo sich der Felsendom und die Al-Aksa-Moschee befinden, gab es bereits im Jahr 2000, als der damalige israelische Oppositionsführer Ariel Sharon den Tempelberg besuchte. Das war auch der offizielle Beginn der zweiten Intifada – einer gewaltsamen Revolte zwischen Palästinensern und israelischen Streitkräften in Israel, dem Gazastreifen und dem Westjordanland.
Es gibt Stimmen, die befürchten eine dritte Intifada; andere sagen, davon kann derzeit keine Rede sein. Wie schätzen Sie das ein? Karin Kneissl: Ich persönlich schließe das nicht aus. Wenn es zu einer dritten Intifada kommt, würde dieser Aufstand eine neue Form der Gewalt haben, denn die jüngsten Terrorakte zeigen, das sie nicht von langer Hand über eine Organisation vorbereitet worden sind. Sie wurden von Menschen begangen, die aus sich heraus amokartig handelten. Die Reaktion der Israelis darauf ist eine stärkere Bewaffnung im Sinne von Selbstverteidigung. Doch was hilft das, wenn jemand beschließt, sich in einen Kleinbus zu setzen und in eine Menschenmenge hineinzufahren, wie es Anfang November passiert ist? Davor kann man nicht warnen.
Sie sind immer wieder im Nahen Osten unterwegs, haben zeitweise in Jordanien, in Syrien, im Libanon und in Israel gelebt, zum Teil dort studiert und gearbeitet. Wo liegen Ihrer Meinung nach die Ursprünge dieser neuen Art des Terrors? Karin Kneissl: In den 80er Jahren und in den Kriegen der vergangenen zwölf Jahre, die in den Nahen Osten hineingetragen wurden. Konflikte sind seither mehr und mehr von nationalen zu religiösen Auseinandersetzungen geworden. Es hat sich dahingehend entwickelt, dass Religion bedauerlicherweise immer stärker zum wechselseitigen politischen Motor wurde.
Wie sieht das konkret im Falle Israels aus? Karin Kneissl: Bis Mitte der 80er Jahre war es ein Konflikt zwischen zwei Völkern, zwischen Palästinensern und Israelis. Mit dem Anstieg der Nationalreligiösen Parteien in israelischen Regierungen sind religiöse Argumente immer stärker hochgekommen. Es wurde der Anspruch auf Siedlungen in palästinensischen Gebieten laut mit der Begründung, dass da oder dort Stämme Israels gesiedelt haben. Aber auch auf palästinensischer Seite gab es immer stärker eine Hinwendung zum Religiösen à la „wir Muslime bekämpfen die Juden“. Beide Seiten, sowohl Israelis als auch Palästinenser, mobilisieren im Namen Gottes. Das ist natürlich eine völlig falsche Entwicklung.
Diese Problematik wird auch in Europa immer stärker spürbar ... Karin Kneissl: Man hat das im Sommer gesehen, dass es in vielen europäischen Städten wie Frankreich zu Auseinandersetzungen zwischen jüdischen und arabischen Jugendlichen gekommen ist. Gerade in einem Land wie Frankreich, wo beide Gruppen demographisch stark vertreten sind, kann das jederzeit in wechselseitige Gewaltakte münden. Ist ein religiöser Konflikt gefährlicher als ein politischer? Karin Kneissl: Ja, denn wenn sie im Namen Gottes mobilisieren, erreichen sie mehr Menschen, als wenn sie im Namen einer Nation mobilisieren. Wir haben hier auf beiden Seiten den Anspruch der absoluten Wahrheit und Kontrolle. Die sunnitisch-islamistische Palästinenserorganisation Hamas kann sich auch nicht zu einer Zwei-Staaten-Lösung hinreißen lassen, weil sie sagt, dieses Gebiet ist heilige islamische Erde, sie muss von Nichtgläubigen gereinigt werden. Nicht nur im Nahen Osten, aber dort ganz besonders, besteht vermehrt die Haltung, die Welt einzuteilen in Gläubige und in Nichtgläubige oder in Rechtgläubige und Ungläubige. Damit wird dem Gegenüber das Mensch-Sein abgesprochen.
Israel kontrolliert seit dem Sechstagekrieg von 1967 den Gazastreifen, das Westjordanland, Ostjerusalem, die Golanhöhen und die Sinai-Halbinsel. Es gab immer wieder Friedensbemühungen, doch die Situation scheint unlösbar zu sein ... Karin Kneissl: Der Konflikt ist bald 50 Jahre alt im Sinne der Besetzung der Gebiete und die Lage hat sich in den letzten Jahrzehnten, in denen Israel eine Politik der vollendeten Tatsachen im Hinblick auf den Siedlungsbau setzte, festgefahren. Das ist das große Problem. Die Gewalt zwischen Israelis und Palästinensern wächst. Die äußerst fragwürdige Siedlungspolitik der Israelis sorgt mittlerweile auch für großen Unmut in den USA und in der EU. Seitens der Europäischen Union sind deshalb Sanktionen gegen Israel geplant.
Was halten Sie von einer Zwei-Staaten-Lösung? Karin Kneissl: Daran habe ich nie geglaubt. Die Trennung der Territorien auf diesem kleinen Gebiet ist viel zu kompliziert, da es immer mehr aufgefressen wird durch die Mauer, durch die israelischen Siedlungen in den besetzten palästinensischen Gebieten. Israel kontrolliert eine arabische Bevölkerungsmehrheit, ohne ihnen Bürgerrechte zu gewähren. Insofern kann Israel schlussendlich kein demokratischer Staat mehr sein. Sollte es zu einer Eingliederung der Palästinenser in einen binationalen Staat kommen, ist wiederum die Idee des Zionismus hinfällig, denn dann wäre es kein jüdischer Staat mehr. Es ist für alle Beteiligten ein Riesendilemma.
Wie kann dieser Konflikt entschärft werden? Karin Kneissl: Wenn man Staatlichkeit schaffen will, sei es eine Zwei-Staaten-Lösung oder was auch immer, dann kann das nur über staatspolitische Kriterien und nicht über göttliche Maßstäbe gehen. Politische Vertreter der Konfliktparteien müssen sich an einen Tisch setzen und sachlich die Probleme für die Menschen dahingehend lösen, dass sie in Würde und in Sicherheit und mit Aussicht auf Arbeit und wirtschaftlichem Schaffen leben und sich frei bewegen können. Das kann nur aus der Region heraus kommen.
Sie waren in Israel u. a. einmal als Krankenpflegerin tätig. Wie ist es dazu gekommen? Karin Kneissl: Ich habe 1984 in Jerusalem Arbeit gesucht, um mir meinen Aufenthalt zu finanzieren und fand eine Stelle als Krankenpflegerin in einem Hospiz. Ich sah dort, wie schwierig das Zusammenleben der Menschen ist, auch wenn sie krank waren und kurz vorm Tode standen. Leute verschiedenster Religionen und Ethnien fanden sich unter den Kranken und unter dem Pflegepersonal. Da kam es zu Begegnungen, die mich tief bewegten. So hat z. B. ein ehemaliger israelischer General erst in der letzten Phase seines Lebens kapiert, dass es ein Palästinenser war, der ihn pflegte.
Wie sind Ihre Eindrücke von den Menschen im Nahen Osten? Karin Kneissl: Ich habe im Orient einen Grad an Gastfreundschaft, an Würde, an Herzenswärme erleben dürfen und Menschen kennengelernt, die mit einem unglaublichen Lebenswillen aus eigener Kraft immer wieder versuchten ihren Alltag aufrechtzuerhalten – trotz der schwierigen Umstände und dem Chaos, in dem sie leben. Mir liegen die Menschen in der Region am Herzen. Ich habe von ihnen sehr viel gelernt und ich werde traurig und wütend, wenn ich sehe, welchen Blutzoll diese Zivilisationen bezahlen müssen aufgrund all des Unfugs, der angerichtet wurde.
Buchtipp: „Mein Naher Osten“, von Karin Kneissl. Braumüller Verlag 2014. Euro 21,90.