Neugierig auf den europäischen Film? Das Filmfestival "Crossing Europe" lädt von 23. bis 28. April zu einem künstlerischen Kino.
Ausgabe: 2015/16, crossingeurope
15.04.2015 - Markus Vorauer
Man stelle sich vor: Eine große Menschenmenge, die sich auf einem riesigen Platz versammelt hat. Aufrufe, Durchhalteparolen, Gesänge, Befehle, Schreie, Schüsse, Sirenen. Kommentarlos registriert eine starre Kamera in langen ungeschnittenen Sequenzen eine machtvolle Demonstration, so als wollte sie das revolutionäre Pathos zähmen, doch die akustische Verdichtung lässt keine Zweifel offen: Hier wird bald blutige Geschichte geschrieben. "Maidan" von Sergei Loznitsa im November 2013 in Kiew bei den beginnenden Unruhen gedreht, ist ein exemplarischer Film dafür, wie Christine Dollhofer das Festival „Crossing Europe“ programmiert. Für sie ist diese Filmschau eine „filmische Projektionsfläche eines Kontinents im permanenten Wandel, auf der sich die sozialen und ökonomischen Krisen, aber auch die engagierte Zivilgesellschaft spiegeln“. Die 160 Filme aus 45 Ländern, die sie für die diesjährige Ausgabe des Linzer Filmfestivals von 23. bis 28. April 2015 ausgewählt hat, sind ein Beleg für dieses Statement.
Leben an der Grenze
Ein Höhepunkt ist ganz sicher die Werkschau, die dem Regisseur von"Maidan" gewidmet ist. Loznitsa, der sich seit 1996 mit einer eigenwilligen Filmsprache als einer der wichtigsten Dokumentarfilmer Europas profiliert hat, hat mittlerweile auch zwei Spielfilme gedreht, die man zu den Höhepunkten des europäischen Filmschaffens der letzten Jahre zählen muss. In "Schastye Moe" (Mein Glück, 2010), einem der Eröffnungsfilme des Festivals, schickt Loznitsa einen Lastwagenfahrer in einem Grenzgebiet in ein Dorf, in dem Argwohn, Willkür und Unterdrückung dominieren. Grenzen bestimmen auch das beschwerliche Leben eines alten Bauern, der mit einem Waisenmädchen, um das er sich kümmert, eine kleine Insel in einem Fluss, der Georgien von Abchasien teilt, bebaut. "Corn Island" des Georgiers George Ovashvili beschreibt mit großer Empathie den Kampf dieses Mannes gegen die Natur, aber auch die Problematik von willkürlichen Grenzziehungen. Auch Andrej Koncalovskijs "The Postman's White Nights" ist in einer abgelegenen Gegend situiert, wo ein Postbote mit seinem Boot am Ufer eines Sees die verstreuten Häuser versorgt. Als ihm der Motor des Bootes gestohlen wird, hat das gravierende Folgen für die Gemeinschaft. Auch dieser Film, der wie ein spätes Echo von De Sicas "Fahrraddiebe" wirkt, überzeugt durch die Sensibilität, mit der das Zusammenleben in dieser verlassenen Landschaft am Kenozerosee im Norden Russlands geschildert wird.
Qualität aus dem Osten
Überhaupt muss die inhaltliche und formale Qualität der Filme aus dem europäischen Osten hervorgehoben werden, auch wenn sie nicht immer leichte Kost anbieten, wie beispielsweise der bulgarische Film "Urok" (Die Lektion) von Kristina Grozeva und Petar Valchanov, in dem eine junge Englischlehrerin wegen finanzieller Nöte in eine Spirale der Demütigung und Erniedrigung gerät, aus der es kein Entrinnen gibt. Die beiden bulgarischen Filmemacher überraschen aber mit einem ironischen Ende. "Kosac" (The Reeper) des kroatischen Regisseurs Zvonimir Juric verschränkt drei Geschichten, die für ihn „exemplarisch für ein Volk sprechen, das die Folgen einer Nachkriegssituation zu bewältigen hat.“ Ein 60-jähriger Bauer, der gerade wegen einer Vergewaltigung eine Gefängnisstrafe abgesessen hat, gerät durch eine Frau, der er hilft, weil ihr das Benzin ausgegangen ist, in eine Agrarkooperative, deren Mitglieder die traumatischen Ereignisse des Krieges in den 90er-Jahren noch verarbeiten müssen. Der nächtliche Reigen, den Juric aus dieser Begegnung inszeniert, ergibt ein trostloses Bild kroatischer Befindlichkeit. Was die westeuropäischen Filme betrifft, muss "Chrieg", das Debüt des Schweizer Regisseurs Simon Jaquemet, erwähnt werden, der von einer „Erziehungsmaßnahme eines Jugendlichen auf einer Alp“ in rasanten, von harter Musik begleiteten Bildern berichtet. Der Titel ist Programm: Dort oben tobt ein Krieg, bei dem es keine Gewinner geben wird. Bemerkenswert auch "El Camíno Más Largo Para Volver A Casa" (Der lange Weg nachhause) von Sergi Perez, in dem ein Mann mit einer Situation konfrontiert wird, die ihn überfordert. Elvis, der schon lange sein Haus nicht mehr verlassen hat, findet den Hund seiner Frau schwer verletzt, was ihn dazu zwingt, sich ins Außen zu wagen. Dabei vergisst er die Wohnungsschlüssel, was ihn nun mit einer Welt konfrontiert, mit der er eigentlich schon abgeschlossen hat. In atmosphärisch dichten Bildern entwirft Perez das Porträt einer rätselhaften Figur, die gleichermaßen fasziniert und abstößt.