Christen im Heiligen Land leiden unter Gleichgültigkeit
Ein Brandanschlag auf ein Kloster am See Gennesaret im Juni und die vielen Flüchtlinge in Jordanien aus Syrien und dem Irak: Wie die internationale Gemeinschaft den Christen im Heiligen Land helfen kann, sagt der Lateinische Patriarch von Jerusalem, Fouad Twal, im Interview.
Fouad Twal war Mitte August 2015 in Bad Ischl zu Gast und nahm auch zur Familiensynode im Oktober Stellung.
Nach dem Brandanschlag auf das Kloster in Tabgha am See Genesaret und dem Verhör eines israelischen Rechtsextremisten nach christenfeindlichen Aussagen: Wie bedrohlich ist die Lage für die Christen im Heiligen Land aktuell? Twal: Es ist mehr als eine Bedrohung, denn hier geht es um Fakten: Unsere Situation kann man schon seit Jahren als die einer „Kirche am Kalvarienberg“ bezeichnen. Ob es die Okkupation der palästinensischen Territorien oder unsere aktuellen Probleme mit der Regierung Netanyahu sind: Einem normalen Leben von Christen im Heiligen Land stehen viele Dinge entgegen. Aber im ganzen Nahen Osten leben Christen wie auf einem Kalvarienberg. Es ist schmerzhaft zu sehen, wie sich die Situation verschlechtert und die christliche Präsenz hier nicht auf der Tagesordnung der internationalen Politik steht. In Bezug auf den Nahen Osten wird eine Bulldozer-Politik gemacht, während die Christen Gleichgültigkeit ihrem Schicksal gegenüber erleben.
Ist also die Brandstiftung in Tabgha, die in diesem Fall zumeist Extremisten aus der israelischen Siedlerbewegung zugeschrieben wird, keine neue Entwicklung? Twal: Fanatismus und Vandalismus kennen wir alle – ob nun von einer muslimischen oder einer israelischen Seite. In den letzten Jahren hatten wir rund 80 Vandalenakte von extremistischen Gruppen, zum Beispiel aus der Siedlerbewegung. Von der Regierung in Jerusalem höre ich stets, sie verurteile diese Taten. Aber das reicht mir nicht: Ich will wissen, wer dahintersteckt, wo diese Leute so etwas lernen. Ich will, dass sie sich vor Justizbehörden verantworten müssen. Es ist keine Lösung, diese Taten zu verurteilen und die Täter unbehelligt zu lassen.
Andererseits war auch zu hören, dass es auch Solidarität in der israelischen Zivilgesellschaft und von Repräsentanten des Judentums gibt. Twal: Es gibt viel guten Willen. Ich habe viele Briefe von Rabbinern bekommen, die die Taten verurteilen und sich sogar dafür entschuldigten. Ich erinnere mich auch an einen Brandanschlag im Kloster von Latroun: Als ich dorthin kam, fand ich jüdische Familien, die beim Löschen und Aufräumen halfen. Ein Lehrer der Hebräischen Universität wollte dem Kloster mit Geld helfen. Ich habe ihm geantwortet: „Vielen Dank, aber wichtiger als Geld ist Bildung bei der Jugend zu Demokratie.“ Ob aber unsere Unterstützer Einfluss auf die Radikalen oder die Regierung Netanyahu haben, damit die Exekutive tätig wird, weiß ich nicht.
Zu den Problemen, die palästinensische Christen mit israelischen Behörden haben, gehört der Bau einer Mauer im Cremisan-Tal bei Beit Jala, den die Behörden mit Sicherheitserwägungen begründen ... Twal: Zuerst: Es gibt keine Mauer der Sicherheit, sondern diese wurde gemacht, um mehr Land der Palästinenser zu konfiszieren. Die letzten gewalttätigen Anschläge in Jerusalem waren innerhalb der Mauer und nicht außerhalb. Die Mauer trennt Familien, Pfarren und das Land. Wir hören oft die Raketen, welche die Hamas vom Gaza-Streifen aus abfeuert. Ich denke nicht, dass Raketen durch die acht Meter hohe Mauer gestoppt werden können. Die Päpste haben bei Besuchen im Heiligen Land oft darauf verwiesen, dass wir Brücken, Zusammenarbeit und Solidarität brauchen. Jedermann hat das Recht, auf seinem Land zu bauen, aber nicht auf dem Land des Nachbarn.
Sehen Sie Chancen, den Bau noch zu stoppen? Twal: Als nun das erste Urteil erging, wonach die Mauer nicht gebaut werden durfte, riefen wir Sieg – für die israelischen Richter, die sich getraut hatten so zu entscheiden; für die israelische Demokratie; für uns, unsere Anwälte und unsere Unterstützer. Ich bin mir nicht sicher, ob die neue Entscheidung mit dem Grundlagenvertrag zu tun hat, in dem der Heilige Stuhl Palästina als Staat anerkennt. Israels Regierung war sehr gegen dieses Abkommen. Jedenfalls kam vergangene Woche erstmals ein ausländischer Fernsehsender, die italienische RAI, zu den Menschen, die schon länger auf den Feldern gegen die Mauer beten. Dass die internationale Gemeinschaft hier nicht klar Stellung bezieht, ist schmerzhaft. Unsere Hoffnung ist, dass sie das tut und sagt: Man kann nicht Mauern auf dem Land anderer Menschen bauen.
Sie haben den heuer vereinbarten Grundlagenvertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und Palästina angesprochen: Was bringt Ihnen der Vertrag? Twal: Noch ist er nicht ratifiziert. Aber wenn das geschehen ist, bringt er uns viel: mehr Bewegungsfreiheit, Erleichterungen für unsere Schulen oder in steuerlicher Hinsicht. Zudem hoffe ich, dass er einmal ein Vorbild für Verhandlungen mit anderen arabischen Staaten sein kann, die noch keine solche Vereinbarung mit dem Heiligen Stuhl haben. Es ist ein gutes Modell. Ich hoffe, dass das Agreement zwischen dem Heiligen Stuhl und Israel aus 1993 endlich ratifiziert wird.
Der Bürgerkrieg in Syrien, die Exzesse des sogenannten Islamischen Staates: Was bedeutet diese Nachbarschaft für Ihre Diözese? Twal: Die Bedrohung für Christen in der Region ist enorm. Aber der Islamische Staat ist gegen die Menschlichkeit gerichtet, nicht allein gegen Christen, sondern genauso gegen Muslime und Juden. Jordanien gehört zu meinem Diözesanbereich: Dort leben rund 1,4 Millionen Flüchtlinge. Unsere Caritas kümmert sich um diese Menschen, unsere Kirchen und Schulen sind voll mit Flüchtlingen, die pastorale Arbeit ist schwer davon betroffen. Die katholische Kirche gibt hier ein Zeugnis: Wir teilen unsere Armut mit anderen armen Menschen. Aber mittlerweile werden wir müde, weil die Situation so ausweglos ist. Und auch die Flüchtlinge sind es leid, nur Almosen empfangen zu können. Es geht um ihre Würde. Sie sagen: „Lasst uns arbeiten, lasst uns nach Amerika und nach Europa gehen. Wir können nicht einfach hierbleiben und auf Hilfe warten.“
Wie verfolgen Sie vor diesem Hintergrund die Diskussion in Europa? Twal: Die Lösung lautet: Setzt Euch für Frieden in den Heimatländern dieser Menschen ein. Man muss hier die Verantwortung und die Schuld des Westens ansprechen für die Situation im Irak und in Syrien und darüber hinaus: Der politische Wille war der Regimewechsel im Irak, in Libyen und jetzt in Syrien. Die Frage ist aber stets: Was kommt hinterher? Die Lage ist heute sehr kompliziert. Zur Flüchtlingsdebatte: Europa nimmt auch Flüchtlinge auf – aber was ist das im Verhältnis zu der Situation in Jordanien? Die Flüchtlingszahlen dort entsprechen rund 20 Prozent der Bevölkerung. Stellen Sie sich das für Österreich vor! Wenn man keine Flüchtlinge haben will, muss man dafür sorgen, dass die Menschen Frieden, Sicherheit und Arbeit in ihrer Heimat haben.
Kommen wir zu einem ganz anderen Thema: Sie sind im Päpstlichen Familienrat engagiert und im Oktober findet die zweite Familiensynode statt. Was sich viele Europäer davon erwarten, ist bekannt. Was aber sind Ihre Hoffnungen? Twal: Bei der Synode geht es um Herausforderungen für die Familien. Einige haben wir im Nahen Osten gemeinsam mit den Europäern – wenn auch nicht allzu viele. Bei uns gibt es zum Beispiel gar keine zivilen Eheschließungen, sondern nur religiöse. Und wir haben praktisch keine unverheirateten Paare, die wie verheiratet zusammenleben: Das lässt die Gesellschaft nicht zu. Dafür haben wir das Problem der Auswanderung christlicher Familien oder zum Beispiel die Mentalität, dass der Mann der „Boss“ in der Familie sein muss. Ich hoffe, dass unsere Fragen bei der Synode diskutiert werden. Ich war vergangenes Jahr bei der Synode und werde heuer wieder dabei sein. Papst Franziskus möchte ja Barmherzigkeit und Disziplin verbinden. Wir sind da gespalten zwischen jenen, die auf Disziplin und kanonisches Recht setzen, und jenen, die mehr Barmherzigkeit wollen. Der Papst will das zusammenführen. Ich persönlich fände es gut, wenn Rom nach der Synode den Ortskirchen und den Bischöfen mehr Entscheidungsvollmacht gibt und man mehr auf Einzelfallentscheidungen setzt. Die Bischöfe wissen mehr über die Menschen und die Situationen vor Ort.
Zur Person
Patriarch Fouad Twal
Als Lateinischer Patriarch von Jerusalem ist der 1940 in Jordanien geborene Dr. Fouad Twal der Bischof der (vor allem arabischen) katholischen Christen im Heiligen Land. Seine Erzdiözese umfasst neben Israel, Palästina und Jordanien auch Zypern. Twal trat nach einer Zeit als Seelsorger und einem Studium des Kirchenrechts in den diplomatischen Dienst des Heiligen Stuhls ein. 1995 wurde er Bischof von Tunis, zehn Jahre später Koadjutor des damaligen Lateinischen Patriarchen von Jerusalem, Michel Sabbah. Ihm folgte er 2008 im Amt nach.