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Auf der Piazza Maggiore, dem größten Freiluftkino weltweit, wurden zugängliche, aber nicht immer überzeugende Filme präsentiert. So etwas das Kriegsdrama The Train of Salt and Sugar des mosambikanischen Regisseurs Licinio Azevedo, das von einer aus dem Bürgerkrieg des Landes überlieferten Zugreise durch gefährliches Terrain handelt. Die Figurenkonstellation und der Plotverlauf erinnern an einen durchschnittlichen Western aus den 50er-Jahren. Wie man eine berührende Geschichte mit großem Aktualitätswert zwar konventionell, aber doch konzis und von einem wunderbaren Schauspielerensemble getragen, erzählen kann, beweisen wieder einmal Ken Loach und sein Drehbuchautor Paul Laverty. Der schon in Cannes mit der Goldenen Palme prämierte Film I, Daniel Blake konnte völlig berechtigt in Locarno den Publikumspreis gewinnen. Loachs Interesse für jene Menschen, die ein Leben lang ehrlich ihr Geld verdient haben, mündet hier in eine kafkaeske Odyssee, in die der 59-jährige Daniel Blake bei seinem Hindernisparcours durch die Institutionen gerät, weil er nach einem Herzinfarkt auf staatliche Unterstützung angewiesen ist. Seine Widerstandskraft geht wahrlich zu Herzen.
Im Wettbewerb um den Goldenen Leoparden manifestierte sich teilweise ein Dilemma, in dem sich viele Filmemacher, die abseits des Mainstreams agieren, befinden. Statische Einstellungen und lange Sequenzen ohne Schnitt müssen noch keinen sehenswerten Film ergeben. Wenn dann auch noch die Schauspieler zu blutleeren Statuen erstarren, wird die Filmrezeption einer nicht enden wollenden Strapaze unterzogen. Der traumhafte Weg der deutschen Regisseurin Angela Schanelec ist so ein Film, dessen Fortgang der Handlung durch die Verweigerung jeglicher Aktion zu stocken droht. Schanelec präsentiert einen Reigen von Personen, die ihr Leben ändern wollen, durchwegs aber in Agonie verfallen, so wie die Regisseurin in dem thailändischen Wettbewerbsbeitrag By the time it gets dark von Anocha Suwichakornpong, die das Leben einer Studentenaktivistin aus den 70er-Jahren zu einer Geschichte formen will. Der Film verliert sich so wie der Film im Film in einem Geflecht mehrerer Erzählebenen, sodass man irgendwann dem Geschehen nicht mehr folgen kann.
Umso erfreulicher dagegen das linear als Road-Movie erzählte Porträt eines jungen Löwenbändigers, das Tizza Covi und Rainer Frimmel mit Mister Universo gelungen ist. Die österreichisch-italienische Co-Produktion verfolgt Tairo, der durch das Verschwinden eines Talismans angespornt wird, einen ehemaligen Mister Universum zu suchen, der ihm den Glücksbringer vor langer Zeit geschenkt hat. Immer wieder wird die Bestandsaufnahme einer aussterbenden Zunft durch komische Momente aufgelockert, selten wurde aber bisher das Zirkusleben so trostlos gezeigt wie in diesem von der Jury mit einer lobenden Erwähnung bedachten Film. Und doch hinterlässt der Film keine negative Stimmung, weil der junge Löwendompteur trotz der Krise mit seinem Überlebenswillen und seiner Neugierde bewundernswert agiert.
Viele Filme beschäftigten sich heuer mit den prekären Arbeitsbedingungen, die auch Europa erfasst haben und die vor allem Frauen zum Verhängnis werden. Auch der bulgarische Siegerfilm Godless von Ralitza Petrova zeigt, wie Menschen durch die Verhältnisse moralisch entgleiten, nur um überleben zu können. Die Protagonistin stiehlt älteren Demenzkranken ihre Identitätskarten, um diese auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen. Für Gana hat scheinbar nichts mehr Bedeutung, bis sie durch einen alten Mann aus ihrer aller Werte entbehrenden Lethargie gerüttelt wird.
Berechtigt auch der Spezialpreis der Jury an die stimmige Adaption des Romans Vernarbte Herzen des großen, erst postum entdeckten, rumänischen Romanciers M. Blecher. Radu Jade gelingt es bestens die dekadente Atmosphäre am Beginn des 20.Jahrhunderts umzusetzen, wie sie Blecher, der durch eine Knochentuberkulose die letzten zehn Jahre ans Bett gefesselt war, in einem Sanatorium an der rumänischen Schwarzmeerküste beschreibt. Während der Körper erstarrt, beginnt der Geist sein besonderes Potenzial auszuschöpfen. Das Ergebnis werden drei Romane sein, die einen erschütternden Einblick in die Psyche des leidenden Schriftsellers gewähren, der sich aber bis zuletzt nicht mit seiner ausweglosen Situation abfinden will.
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