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„Seht das Lamm Gottes. Es nimmt hinweg die Sünden der Welt!“
In der Antike herrschte bei den meisten Völkern die Vorstellung, dass die Menschen durch ihre Sünden und Fehler die Gottheit oder die Götter beleidigt hätten. Einziges Mittel der Versöhnung waren zahlreiche und schmerzhafte Opfer. Menschenopfer, riesige Mengen von Tieropfern oder Lebensmittel-Opfern waren die Folge.
Schon einige Propheten der Juden kritisierten diese Opferpraxis (vgl.: Jer 20,6, Os 6,6, Mt 9,14).
Auch für Jesus waren diese Opfer im Tempel ein Gräuel. Kann denn der allmächtige, liebende und barmherzige Gott, unser Schöpfer und Erhalter von uns überhaupt enttäuscht, beleidigt oder gar erzürnt werden? Ist er nicht zu groß und darüber zu erhaben? Hat er uns nicht sündenfähig erschaffen?
„Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer!“
Jesus stand vor der Frage: soll er weiter herumziehen und seine Freunde und Nachfolger lehren, oder soll er einen aufsehenerregenden Protest gegen die allgegenwärtige Opferpraxis starten. Er entschied sich für Letzteres und agierte gegen die Tierhändler und Geldwechsler im Tempel. Er stürzte ihre Tische um und trieb sie mit einer Geißel aus dem Tempel.
Damit hatte er sein Todesurteil provoziert. Es ist ihm dadurch aber auch gelungen, seine Gefährten von der Opferpraxis abzuhalten. Sein Opfertod hat die Opferpraxis zunächst bei den Christen, später aber auch bei den Juden und andren Religionen beendet.
Er ist das wahre Opferlamm, das der Sühnepraxis durch sein Opfer ein Ende bereitet hat.
Nicht mit Gott müssen wir uns versöhnen, sondern untereinander und miteinander.
Ein Text aus dem Buch "Nachtgedanken eines Theologen" von Wolfgang Hingerl, erschienen im novum Verlag.
Der Theologe Wolfgang Hingerl bietet in diesem Prosa-Band Einblicke in seine wissenschaftlich fundierte Spiritualität. Die einleitenden Gedanken "Stark wie der Tod ist die Liebe" (Hohelied 8,6) und "... ich werde alle zu mir ziehen" (Joh 12,32) fassen die inhaltliche Ausrichtung gut zusammen.
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