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„Leben Sie auf einem anderen Stern? ... Sehen Sie nicht, hören Sie nicht, was rund um uns vorgeht?“ Mit solchen Worten attackiert ein zunächst Unbekannter den Autor, der auf einer Bank im Wiener Türkenschanzpark sitzt und sich Notizen zu seiner geplanten Autobiographie macht. Der Autor ist Paul Spielmann – Henischs Alter Ego und aus anderen Romanen als Erzähler bekannt. Der andere heißt Max Stein und behauptet, die Hauptfigur in Spielmanns (Henischs) Roman „Steins Paranoia“ aus dem Jahr 1988 zu sein, als der Fall Waldheim die Gemüter erhitzte. Es geht um einen Satz, der gesagt werden hätte sollen, aber nicht gesagt wurde. Für Stein ist, was vor 30 Jahren als Hirngespinst eines paranoiden Menschen abgetan werden konnte, mittlerweile zur Normalität geworden. Das will er nicht gelten lassen. Er inszeniert sich als politisches Gewissen des Autors und will verhindern, dass dieser sich in der Harmlosigkeit von Jugenderinnerungen ergeht, während die Verhältnisse immer brutaler werden. Stein verfolgt den Autor, spürt ihn sogar in seiner Wohnung auf und setzt unmissverständliche Zeichen, dass er sich so leicht nicht abschütteln lässt.
Daraus entwickelt sich eine dramatische Geschichte mit einem halbwegs glücklichen Ausgang, die – wie bei Henisch sehr oft – zwischen Fakten und Fiktion spielt. „Also dann schreiben Sie, Spielmann, schreiben Sie“,
lautet der letzte Satz, der in diesem Fall verraten werden muss, weil man ihn Peter Henisch zurufen möchte, denn man will sich noch auf weitere Bücher dieser Art freuen können.
Peter Henisch, Siebeneinhalb Leben, Wien, Deuticke Verlag, Wien 2018, 128 S., € 18,50.
Ein unsichtbares Seil scheint die drei Menschen zu verbinden, von denen Erich Hackl in seinem neuen Buch berichtet und mit dem er einem unauffälligen, wortkargen Menschen ein Denkmal setzt. Wie immer bei Hackl basiert die Erzählung auf authentischen Lebensgeschichten. In diesem Fall auf Erinnerungen der heute 90-jährigen Wiener Ärztin Lucia Heilman. Lucia war elf Jahre alt, als der Kunsthandwerker Reinhold Duschka sie und ihre Mutter Regina Steinig im letzten Moment vor der Deportation durch die Nazis rettete, indem er sie in seiner Werkstatt im Werkstättenhof in der Mollardgasse im 6. Bezirk versteckte, wo die beiden über vier Jahre unentdeckt blieben und so überleben konnten. Duschka war ein Bergsteigerfreund von Lucias Vater, der schon früher über Persien nach Australien ausgewandert war.
In knappen, nüchternen Sätzen, aber mit höchster Genauigkeit, beschreibt der Autor, wie sich das Leben der beiden Frauen im Versteck abspielt, wo sie nachts allein in einem Verschlag schlafen und jedes Geräusch vermeiden müssen, wo Duschka sie tagsüber an der Fertigung von Metallgegenständen beteiligt, wie er es schafft, Lebensmittel für alle drei zu beschaffen – aber auch Bücher aus der Leihbücherei – und wie gegen Kriegsende die Bomben auf den Werkstättenhof fallen, die beiden aber wie durch ein Wunder mit dem Leben davonkommen.
Hackl berichtet auch darüber, wie die Lebensgeschichten der drei nach dem Krieg weitergehen. Wo Lucias Erinnerung aussetzt, behilft sich der Autor mit vorsichtigen Mutmaßungen und lässt zum Schluss auch noch Duschkas Tochter und seinen Enkel zu Wort kommen. Ein Buch, das auf seinen knapp 120 Seiten mehr über Empathie und Menschlichkeit vermittelt, als so mancher dicke Roman und das wahrscheinlich gerade wegen seiner zurückhaltenden Sprache unter die Haut geht.
Erich Hackl, Am Seil. Eine Heldengeschichte, Diogenes, Zürich 2018, 116 S., € 20,60.
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