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Die Wiener Buchhändlerin Christine Maurer findet in den Aufzeichnungen ihres Vaters ein Manuskript, das die Kriegserinnerungen eines Friedrich Mahr beschreibt. Schnell wird ihr klar: Mahr ist ihr im Sterben liegender Vater Carl Maurer. Christine hat einen Sohn, der mit einer politisch rechten Gruppierung sympathisiert und ihr zunehmend fremd wird. Das ist die Rahmenhandlung, in die der Autor die Geschichte eines Wehrmachtsdeserteurs einbettet, der als Fallschirmjäger unter dem Decknamen „Edelweiß“ gemeinsam mit zwei Kameraden gegen Ende des Zweiten Weltkriegs einen Spionageauftrag der Amerikaner ausführen soll. Die Mission entwickelt sich anders als geplant. Die Absprungstelle im bayrischen Traunstein ist nicht die vorgesehene. Einer der drei Deserteure ist in Wahrheit ein Verräter. Mahr und sein Kamerad Kurt werden getrennt. Kurt wird von der Gestapo gefangen genommen und interniert. Mahr entkommt und kann seine Mission, von der er am Ende erfahren muss, dass sie für die Amerikaner ohnehin ziemlich unbedeutend war, unter dauernder Lebensgefahr fortsetzen und sich bis Linz durchschlagen. Alle drei überleben den Krieg, Friedrich und Kurt bleiben Freunde. Der Roman beruht auf historisch verbürgten Fakten. Wels – hinter dem Pseudonym steht der in Wels aufgewachsene bekannte Kulturjournalist und Programmdirektor der „Buch Wien“, Günter Kaindlstorfer – schildert die Ereignisse der letzten Kriegswochen in Salzburg und Oberösterreich detail- und kenntnisreich und in angenehm nüchterner Sprache. Lediglich die – für das Romangeschehen unvermeidliche? – Liebesgeschichte ist ein wenig blutleer geblieben. Ein sehr lesenswerter Roman, der die Frage der Eigenverantwortung in Zeiten der Bedrohung auch nicht beantwortet, aber eindringlich stellt.
Günter Wels: Edelweiß. Czernin Verlag, Wien 2018, 400 Seiten, € 25,–. ISBN: 9783707606454
Der 1966 in Vorarlberg geborene Gerhard Jäger hat mit seinem Debütroman „Der Schnee, das Feuer, die Schuld und der Tod“ vor zwei Jahren in der österreichischen Literaturszene auf sich aufmerksam gemacht. Mit seinem neuen Roman „All die Nacht über uns“ hat er es im heurigen Herbst auf die Shortlist für den Österreichischen Buchpreis gebracht. Er erzählt darin von einem (namenlosen) Soldaten, der die österreichische Grenze gegen zu erwartende Flüchtlinge zu bewachen hat. Es ist eine einzige, zwölf Stunden lange, kalte, stürmische und extrem dunkle Nacht, in der der Roman spielt. Schauplatz ist ein Wachturm vor einem drei Meter hohen Zaun. Ausnahmsweise ist der Soldat in dieser Nacht ganz allein. Sein Job: „auf der Suche nach Schatten im Finsteren, auf der Suche nach dem, was nicht hier sein darf“, in die Finsternis zu starren und gegebenenfalls zu reagieren, wie eben ein Soldat zu reagieren hätte. Der Roman beginnt um 19 Uhr und ist nach Stunden gegliedert.
Ein aufflatternder Vogelschwarm beschwört gleich zu Beginn ein gespenstisches Szenario. Sehr schnell offenbart sich nach und nach die tragische Lebensgeschichte des jungen Mannes, der sich selbst fremd geworden und am Leben verzweifelt ist. Und zusätzlich geht es immer wieder um die Erinnerungen seiner Großmutter, über die diese nie gesprochen hat. Er hat die Aufzeichnungen im Rucksack und liest immer wieder darin. Den Erinnerungen der fiktiven Großmutter liegen die authentischen Aufzeichnungen über die Flucht der Malerin Dietlinde Bonnlander zugrunde, die 1945 mit ihrer Familie aus Hinterpommern vertrieben wurde. – Um all diese Themen drehen sich die Gedanken, Empfindungen und Erinnerungen des Soldaten. Jäger gelingt es, durch eine poetische Sprache und großteils starke Bilder die Stimmung dieser Nacht lebendig werden zu lassen. Schade nur, dass er zu viel Stoff in den einen Roman gepackt hat, so, als hätte er gespürt, dass er keine Zeit mehr haben würde für weitere Romane. Jäger arbeitete im Hauptberuf als Journalist in Tirol. Am 20. November ist er an den Folgen einer Gehirnblutung gestorben.
Gerhard Jäger: All die Nacht über uns. Picus Verlag, Wien 2018, 240 Seiten, € 22,–. ISBN: 9783711720641
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