Wo einst Fenster waren, klaffen riesige Löcher. Man sieht in das Innere eines mehrstöckigen Hauses. Betondecken hängen herab, die Räume voller Schutt. Eine Außenwand ist unbeschädigt, aus ihr wölbt sich eine Apsis. Pfarrer Hanna Ghoneim greift auf die Steine der Apsis und schweigt. Nach einer langen Pause sagt er: „Das war meine Kirche.“
Er steht mit einer Gruppe österreichischer Journalisten in Ost-Ghouta, einst eine Stadt mit mehreren hunderttausenden Einwohnern, heute eine gespenstische Ruinenlandschaft. Ost-Ghouta war seit Beginn der Proteste und Aufstände 2011 ein Zentrum des Widerstands gegen den syrischen Präsidenten Bashar al-Asad, gut zehn Kilometer von Damaskus entfernt. Von hier wurde die Hauptstadt mit Raketen beschossen: Wohnviertel, Schulen, Kirchen, die große Moschee – niemand war vor den Geschoßen sicher. Pfarrer Ghoneim war im Sommer 2012 auf einem längeren Arbeitsurlaub in Wien, weil er dort auch für die arabischsprachige Pfarre verantwortlich war, als ihn Pfarrangehörige aufgeregt anriefen. Sie sind von sunnitischen Islamisten vertrieben worden. Nur wenige Stunden hatten sie Zeit, um zu verschwinden, sie mussten alles zurücklassen. „Gott sei Dank durften sie gehen, die Schiiten des Viertels sind alle ermordet worden“, sagt der Pfarrer.
Nach jahrelangen erbitterten Kämpfen wurde Ost-Ghouta von den syrischen Regierungstruppen in Grund und Boden gebombt. Seit April 2018 hat die Regierung wieder die Kontrolle – über eine riesige Geisterstadt. Die Regierung nennt das Befreiung. Seither herrscht in Damaskus keine Angst mehr. Die andere Seite ist die Art und Weise, wie gegen jegliches Kriegsrecht gekämpft wurde – auf beiden Seiten. Die wie in Ost-Ghouta zu Betonskeletten zerbombten Wohnhäuser sind auch in den Städten Homs und Aleppo zum Erkennungszeichen des Kriegs in Syrien, zu einem Logo geworden. Wenn man Kilometer um Kilometer durch diese Ruinenlandschaften fährt, spürt man hautnah, dass sich in diesen apokalyptischen Bildern der Konflikt in Syrien mit alle seinen Facetten bündelt: die unvorstellbare Brutalität, Kämpfen ohne Rücksicht auf Verluste, Siegen, ohne etwas gewonnen zu haben und das alles auf dem Rücken der hilflosen Bevölkerung – von Millionen Menschen.
Zurück nach Ost-Ghouta: Pfarrer Ghoneim klettert durch ein Loch in der Wand des Gebäudekomplexes, in dem die Kirche eingerichtet war. Doch bald ist er wieder zurück. Es ist zu gefährlich: Scherben, Eisenstäbe, herabhängende Betonbrocken und womöglich auch nicht detonierte Granaten. „Ich hätte den Altar gesucht, der sooft die Menschen zum Mahl der Liebe versammelt hat. Ein zerstörter Altar ist, wie wenn man seine Mutter verliert.“ – Er dreht sich um, weg von der Gruppe der Journalisten, er möchte einen Augenblick allein sein.
Bei Einbruch der Dunkelheit flackern in den Ruinen von Ost-Ghouta kleine Lichter. Unvorstellbar, dass sich in manchen Räumen schon wieder Menschen angesiedelt haben. Sobald die Waffen schweigen, macht sich eine Art Alltag breit. Der Krieg ist zurzeit in mehr als der Hälfte Syriens vorüber, vor allem in den politischen und einst wirtschaftlichen Zentren des Landes um die Städte Damaskus, Homs und Aleppo. Diesen Teil des Staates kontrolliert wieder zur Gänze die Regierung unter Bashar al-Asad. Bewegt man sich – wie die österreichische Journalistengruppe und die ICO-Delegation das tat und nur das tun konnte – im Regierungsterritorium, hat man nicht den Eindruck in einem Kriegsgebiet zu sein. Außer Checkpoints an Straßenkreuzungen, herrscht aus militärischer Sicht Ruhe. Gekämpft wird ausschließlich in einer einzigen Provinz, in Idlib: Der aktuelle Einmarsch der Türkei hat den Norden Syriens zum Ziel, der unter der Kontrolle der syrischen Kurden steht – rund ein Drittel des Landes, in dem die Regierung al-Asads keine Macht hat.
Deutlich mehr als zehn der insgesamt 16 Millionen Bewohner Syriens leben in dem Gebiet, in dem Präsident al-Asad das Sagen hat und der Krieg als beendet gilt. Das Kriegsende hat die Menschen mit Hoffnung erfüllt: Wenn die Waffen schweigen, wird alles anders, besser, war ihr Traum in den Jahren der Kämpfe und Angst. Der ist aber wie eine Seifenblase zerplatzt. Die Enttäuschung ist groß.
„Jetzt herrscht ein wirtschaftlicher Krieg“, erklärt der syrisch-orthodoxe Bischof Selwanos Boutros Alnemeh in seinem Amtssitz in der Altstadt von Homs. Das Land liegt wirtschaftlich am Boden und durch die internationalen Sanktionen gibt es keine Aussicht auf Besserung: Maschinen dürfen nicht importiert, Obst und Gemüse aus Homs dürfen nicht exportiert werden. Medikamente fallen ebenfalls unter das Embargo. Man müsse die Medikamente für eine Chemotherapie und die notwendigen Infusionsschläuche und -nadeln selbst ins Krankenhaus mitbringen, damit man behandelt werden kann, wird den Journalisten von unterschiedlicher Seite berichtet. Bischof Selwanos fordert nachdrücklich die Aufhebung der Sanktionen, die – mit Ausnahme weniger Reicher – die gesamte Bevölkerung treffen.
Die Verzweiflung ist groß, sagt der Bischof, dem kürzlich ein Vater erzählte: „Wir sind heute nicht mehr imstande unsere Kinder zu ernähren. Das ist schrecklich anzusehen. Als Krieg war, sind sie wenigstens gestorben.“ Der Bischof und seine Kirche helfen, wo sie können, aber es ist nicht einfach, weil sich die Not vervielfältigt hat, und nennt ein Beispiel: „Vor dem Krieg betreuten wir zwanzig Waisenkinder, jetzt zweihundert.“
Zur Sache
Die Initiative Christlicher Orient (ICO) und der syrische Pfarrer Hanna Ghoneim haben im September 2019 für österreichische Journalisten eine Reise nach Syrien organisiert, damit sie sich vor Ort einen Eindruck von der aktuellen Situation machen konnten. Dazu war die Genehmigung des syrischen Informationsministeriums notwendig. Das Gespräch mit dem Großmufti von Syrien und dem Minister für religiöse Angelegenheiten sowie Besuche in zerstörten Stadtteilen waren vom Ministerium geplant, den Großteil der Zeit nahmen aber Begegnungen mit Kirchenvertretern ein. Die Kirchen haben für ihre Hilfsprojekte im Wesentlichen von der Regierung al-Asads freie Hand. Pfarrer Ghoneim errichtet mit seiner „Korbgemeinschaft“ eine Bäckerei, die ICO ist besonders in Homs und Aleppo engagiert. Die polnische Ordensfrau Sr. Brygida Maniurka kämpft in Aleppo gegen die Hoffnungslosigkeit an, die sich nach den Kämpfen breitmacht. Mit Kleinkrediten ermöglicht sie erfolgreich Firmengründungen wie Friseurladen und andere Geschäfte: „Es ist schön zu sehen, dass sich Träume von jungen Menschen erfüllen.“ Sie unterstützt auch Paare, die heiraten wollen, mit Eheringen. „Das erleben sie als große Ermutigung.“ Wenn die Kirche mit uns ist, dürfen wir uns trauen, so ihre Überzeugung.
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