Was vor wenigen Monaten noch kaum jemand für notwendig hielt, daran führt offenbar kein Weg vorbei. Die Regierung hat ihren Gesetzesentwurf zur Impfpflicht gegen Covid-19 präsentiert, ab dem Frühjahr 2022 soll es Verwaltungsstrafen für nicht Geimpfte geben. Moraltheologen bewerten diesen Schritt unterschiedlich.
Lange haben wir nicht so unmittelbar erleben müssen, dass das Verhalten jedes und jeder Einzelnen über Gesundheit und Krankheit, Leben und Tod vieler anderer mitentscheidet. Wenn wir Abstand halten, Maske tragen, Kontakte auf ein Minimum reduzieren und vor allem wenn wir uns impfen lassen, schützen wir viele andere Menschen. Wenn wir das nicht tun, setzen wir sie der Gefahr einer Infektion aus – mit allen Folgen, die das haben kann. Vor allem aber bringen wir dann die Krankenhäuser an die Grenzen der Belastbarkeit und auch über diese Grenzen hinaus.
Die Berichte der letzten Wochen zeigen eindrücklich, wie überlastet, erschöpft und verzweifelt das Personal vieler Intensiv- und Covid-Normalstationen derzeit ist. Ganz zu schweigen von den vielen Menschen, deren Operationen jetzt verschoben werden müssen, um Covid-Patient/innen Platz zu machen. So kann und darf es nicht weitergehen.
Nun tragen sämtliche Schutzmaßnahmen etwas zur Reduzierung des Infektionsrisikos bei. Doch zwei von ihnen sind die mit Abstand stärksten Mittel gegen das Virus: Lockdowns und Impfungen. Beide wirken aber nur, wenn sich (fast) alle daran halten. „Fast alle“ – das bedeutete vor dem Aufkommen der Delta-Variante eine Impfquote von ungefähr 70 Prozent, denn die vorangehenden Varianten waren nicht so ansteckend. Wäre es bei ihnen geblieben, hätten wir die Herdenimmunität ohne Impfpflicht erreicht und das Virus bis auf kleine Infektionsherde wirksam eindämmen können.
Seit der Delta-Variante ist dies jedoch anders. Um jetzt durch das Impfen einen Herdenschutz zu erreichen, brauchen wir eine Impfquote von etwa 90 Prozent. Und die ist trotz aller Angebote, allen Werbens und Aufklärens auch Ende 2021 nicht in Sicht.
Daher stellt sich die Frage: Soll die geimpfte Mehrheit weiter unter strengen Lockdowns leiden, nur damit die Minderheit ihre freie Entscheidung verwirklichen kann, sich nicht impfen zu lassen? Oder darf der Staat die Menschen zur Impfung verpflichten?
Zweifelsohne ist eine Impfpflicht eine Art „ultima ratio“, ein letztes Mittel. Sie darf nur verordnet werden, wenn alle geringeren Maßnahmen an ihr Ende gekommen sind. Genau dies ist aber der Fall. Denn ständig neue Lockdowns – die einzige Alternative – sind ein wesentlich härterer und massiverer Eingriff in die Freiheitsrechte der Menschen als eine Impfpflicht. Der Staat muss hier das geringere Übel wählen. Die Impfpflicht ist unter diesen Umständen ethisch nicht nur erlaubt, sondern sogar geboten.
Das heißt freilich nicht, dass Aufklärung und Werben um Vertrauen in die Impfung nun nicht mehr nötig wären. Im Gegenteil: Wenn jene Menschen, die sich der Impfpflicht nur widerwillig beugen, nicht dauerhaft ihr Vertrauen in Staat und Gesellschaft verlieren sollen, sind wir alle gefordert, ihnen Mut zu machen und sie mit Mitgefühl zu begleiten. Wir alle, das heißt Politik, Medizin, Kirchen, Nichtregierungsorganisationen und alle geimpften Bürgerinnen und Bürger.
Meine große Hoffnung ist: Wenn (fast) alle geimpft sind und damit wieder derselben Gruppe angehören, können wir die momentane Spaltung der Gesellschaft leichter überwinden. «
Michael Rosenberger, Vorstand des Instituts für Moraltheologie der Katholischen Privatuniversität Linz
Ich bin ein überzeugter Befürworter von Covid-19-Impfungen. Eine gesetzliche Impfpflicht ist aus meiner Sicht aber ein zu schwerwiegender Eingriff in die persönlichen Freiheitsrechte, besonders in das Recht auf körperliche Integrität und auf informierte Zustimmung. Letzteres halte ich für ein grundlegendes medizinethisches Prinzip, das wir nicht unterschreiten sollten, um Freiheitsrechte zu schützen und um das Vertrauen in das medizinische Personal nicht zu untergraben.
Es kann verschiedene Gründe geben, wieso sich jemand nicht impfen lässt. Manche haben schlichtweg eine Phobie vor Nadeln – ein wohl überwindbares Hindernis.
Andere haben Angst vor möglichen Nebenwirkungen bzw. Impfschäden, die es ja durchaus gibt – auch wenn eine Abwägung von Nutzen und möglichen negativen Folgen deutlich für die Impfung spricht.
Wieder andere meinen, dass die mRNA-Impfstoffe noch zu wenig erforscht seien oder bislang noch nicht bekannte Langzeitwirkungen haben könnten. Es gibt zwar mehrheitlich Äußerungen von Virologen und Ärzten, die diesbezüglich beruhigen. Aber auch aus diesen Fachkreisen gibt es skeptische Stimmen, was viele verunsichert.
Weiters gibt es jene, die wegen der Verwendung von embryonal gewonnenen Zelllinien bei der Herstellung oder Testung von Covid-19-Impfstoffen moralische Probleme haben, diese Impfstoffe zu empfangen – obwohl sogar der Vatikan betont hat, dass dies moralisch vertretbar ist, da die Zelllinien nicht aus aktuellen Abtreibungen stammen und insofern eine solche Impfung keine Zustimmung zu einer Abtreibung bedeutet.
Davon zu unterscheiden sind Argumente, die aus abstrusen Ansichten oder Verschwörungstheorien stammen, etwa dass Mikrochips implantiert oder die DNA verändert würden etc.
Viel entschiedener müsste meines Erachtens gegen Unwahrheiten und Fakenews vorgegangen werden, und zwar sowohl durch medizinische Aufklärung als auch durch rechtliches Belangtwerden jener, die unter dem Vorwand der Meinungsfreiheit falsche Informationen streuen und verbreiten.
Die Erhöhung der Impfrate ist ein Gebot der Stunde, um die Pandemie einzudämmen, Gesundheit und Leben von Menschen zu schützen sowie das Funktionieren des Gesundheitssystems zu gewährleisten.
Ich plädiere dafür, dass jene, die eine Impfung verweigern, sich stärker dafür rechtfertigen müssen. Den Weg, dass sie dezidiert zu einer Impfung eingeladen werden und für sie ein Impftermin festgelegt wird, halte ich für sinnvoll. Sollten sie dem nicht nachkommen, könnten sie zu einem Aufklärungsgespräch vorgeladen werden, bei dem sie ihre Vorbehalte gegen eine Impfung erklären müssen und diese auch einem wissenschaftlichen Faktencheck unterzogen werden. Sollten sie weiterhin nicht bereit sein, sich impfen zu lassen, wäre das als ihre – wenn auch irrige – Gewissensentscheidung wohl zu respektieren.
Umgekehrt müssten dann aber die Betroffenen selbst Einschränkungen in Kauf nehmen zum Schutz der Gesundheit anderer und des Gesundheitssystems.
Die Impfung ist ein effektiver Schutz für sich selbst und für andere. In der aktuellen Lage ist sie auch ein Akt der Nächstenliebe und der sozialen Verantwortung. «
P. Martin M. Lintner OSM, Professor für Moraltheologie und Spirituelle Theologie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Brixen.
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