Warum dafür eine Anhebung des Arbeitslosengeldes notwendig ist, erzählte er der KirchenZeitung.
Herr Tálos, Teile der Politik und der Bevölkerung finden offenbar, Österreich zahle genug Arbeitslosengeld. – Warum soll es erhöht werden?
Emmerich Tálos: Wir haben ein sehr gut ausgebautes sozialstaatliches Sicherungssystem, das Schutz und Teilhabechancen für größte Teile der Bevölkerung gewährleistet. Weniger gut aufgestellt ist die Arbeitslosenversicherung. Das Leistungsniveau bemisst sich nach der Nettoersatzrate des Einkommens. Diese liegt jetzt bei 55 Prozent. Damit sind viele Menschen in keiner Weise vor Verarmung geschützt. Eine Anhebung sichert die Existenzgrundlage und verbessert die Teilhabechancen der Betroffenen. Die Veränderungen, die seitens Unternehmervertretungen und Teilen der Regierung gerade angestrebt werden, gehen in die falsche Richtung.
Sie sprechen vom degressiven Arbeitslosengeld?
Tálos: Genau. Seitens der ÖVP, des Wirtschaftsbundes, der Wirtschaftskammer, des Arbeitsministers und mittlerweile auch des AMS-Vorstands wird die Umsetzung des sogenannten degressiven Modells angestrebt. Das würde bedeuten, dass die Nettoersatzrate für kurze Zeit angehoben wird auf 70 Prozent, um in der Folgezeit immer mehr zu sinken, bis letztlich auf 40 Prozent. Ein solches degressives Modell benachteiligt daher vor allem Langzeitarbeitslose enorm und treibt sie in die Armut. Das wäre eine Entwicklung, die dem Grundgedanken des österreichischen Sozialstaates, nämlich der Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, im höchsten Maße widerspricht.
Ein hohes Arbeitslosengeld führt dazu, dass Menschen nicht mehr arbeiten gehen wollen – dieses Vorurteil hält sich hartnäckig, obwohl ein OECD-Vergleich verschiedener Länder zeigt, dass hier offenbar kein Zusammenhang besteht.
Tálos: Dass diese Annahme in der Bevölkerung verbreitet ist, ist nicht neu. In den 1980er-Jahren, als die Arbeitslosigkeit in Österreich stark gestiegen ist, gab es massive Angriffe auf Arbeitslose und die Höhe des Arbeitslosengeldes. Den Betroffenen wurde unterstellt, dass sie freiwillig arbeitslos sind. Als ob Menschen, die über sonst nichts verfügen außer ihrer Arbeitskraft, sich aussuchen könnten, ob sie jetzt arbeiten wollen oder nicht. Das ist genauso eine Fehlinterpretation wie die Annahme, die Leute hätten durch ein degressives Arbeitslosengeld einen höheren Arbeitsanreiz. Das wäre kein Anreiz, das ist massiver Druck.
Ein kurzer Schwenk zu Corona. Die Politik hat große Hilfspakete geschnürt, damit etwa Unternehmen überleben können. Arbeitslose haben im Vergleich dazu Einmalzahlungen bekommen. Eine ausreichende Maßnahme?
Tálos: Das ist besser, als wenn es nichts gegeben hätte. Aber es reicht nicht. Diese Einmalzahlungen sind so bescheiden gewesen, dass damit die materiellen Probleme für viele Menschen in keiner Weise gelöst sind. Selbst wenn ein geringes Arbeitslosengeld mit der „Sozialhilfe Neu“ aufgestockt würde, läge das Einkommen immer noch unter den 1328 Euro, die die EU als Armutsschwelle für Österreich berechnet. Denn der Richtsatz der Sozialhilfe Neu 2021 für Alleinlebende beträgt 949 Euro.
Auch das Volksbegehren zur Einführung eines Grundeinkommens sucht derzeit nach Unterstützer/innen. Wie stehen Sie dazu?
Tálos: Ein bedingungsloses Grundeinkommen ist eine interessante gesellschaftspolitische Option. Allerdings halte ich die Umsetzung auf lange Sicht für vollkommen ausgeschlossen, weil wir in einer Gesellschaft leben, die nach kapitalistischen Prinzipien organisiert ist. Das heißt u. a., dass das materielle Überleben an die Einbindung in den Arbeitsmarkt gebunden ist, unsere Gesellschaftsstruktur müsste demnach komplett umgepolt werden. Arbeitslosen des Jahres 2021 nützt es aber nichts, wenn in einigen Jahrzehnten ein Grundeinkommen eingeführt würde. Sie brauchen die Unterstützung heute.
Was ist Ihr Appell an die Politik?
Tálos: Mehr als 70 Prozent der Arbeitslosen sind massiv von Verarmung bedroht. Deswegen ist die Politik heute gefordert, den betroffenen Menschen entsprechende Unterstützung zu gewährleisten. Eines der Instrumente ist das Arbeitslosengeld, das erhöht werden muss. Was wir auch im Volksbegehren ansprechen, sind die Zumutbarkeitsbestimmungen, die in den letzten 20 Jahren immer restriktiver geworden sind. Diese müssen wir zurückfahren.
Trotz aller Kritik, sehen Sie den Sozialstaat in Österreich als gut aufgestellt?
Tálos: Der österreichische Sozialstaat ist ein ganz zentraler und unverzichtbarer Faktor für unsere Gesellschaft, unabhängig davon, ob es bei einzelnen Bereichen Veränderungen braucht. Er gewährleistet, was weder privat oder karitativ noch allein durch den Markt geleistet werden könnte. Trotzdem ist manches kritisch zu hinterfragen. Ein Volksbegehren ist eine Möglichkeit, in unserer Gesellschaft Menschen zu sensibilisieren für bestimmte Probleme, für die der gut ausgebaute Sozialstaat nur zum Teil Lösungen hat. Nicht zuletzt auch Druck auf verantwortliche Politiker/innen zu machen, einen Beitrag für menschenwürdige Lebens- und Arbeitsbedingungen zu leisten. Und das ist es, was ich mir von unserem Volksbegehren erwarte.«
Infos unter: www.arbeitslosengeld-rauf.at
Zum Bild: Emmerich Tálos studierte Katholische Theologie, Geschichte und Politikwissenschaft. Letzteres lehrte er ab 1983 an der Universität Wien, seit Oktober 2009 ist er offiziell im Ruhestand. Seiner Feder entstammen zahlreiche Werke über Sozialpartnerschaft, Sozialstaat, politische Entwicklung im 20. Jahrhundert und Austrofaschismus.
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