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Ist es wichtig, dass Kinder eine Handschrift erlernen? Sind „leserlich“, „schön“ und „regelmäßig“ dabei wichtige Kriterien?
Marianela Diaz Meyer: Wenn wir vom Handschreiben sprechen, denken wir zuerst an die Schrift selbst. Dabei sind die Bewegungen, die zur Schrift führen, das Entscheidende. Sie nennen wir Schreibmotorik. Diese handschriftlichen Bewegungen aktivieren zwölf Hirnareale und unterstützen dadurch nachhaltig das Lesen- und Schreibenlernen. Sowohl Kinder als auch Erwachsene können besser lesen lernen, sich Faktenwissen besser merken sowie ein besseres inhaltliches Verständnis erlangen. Handschreiben spielt also eine entscheidende Rolle für die Bildungschancen. Es gibt grundsätzlich drei Aspekte, die eine gute Handschrift ausmachen: Das sind die Lesbarkeit, das Schreibtempo und die Ausdauer. Wichtig ist in erster Linie nicht eine schöne Schrift, sondern dass ein Kind flüssig und lesbar schreiben kann.
Wie und in welchem Alter gelingt das Erlernen am besten? Sollten Kinder Druck- und Schreibschrift erlernen? Parallel, hintereinander oder nur eine davon? Hilft zum Beispiel ein früher, spielerischer Umgang mit Malstiften?
Diaz Meyer: Die meisten Kinder (in Deutschland 61,4 %) fangen mit vier Jahren an, ihren Namen zu schreiben. Das ergab eine vom „Schreibmotorik Institut“ durchgeführte repräsentative Befragung von Müttern. Bis zur Einschulung schreiben Kindergartenkinder selbstständig rund 400-mal ihren eigenen Namen. Nach Angaben ihrer Mütter hat die große Mehrheit (82 %) dabei erkennbaren Spaß am Handschreiben. Es ist von enormer Bedeutung, diese Lust am Schreiben zu fördern und zu erhalten, damit das Schreibenlernen in der Schule ein Erfolg wird. Eltern und pädagogische Fachkräfte in Kindergärten sollten die Zeit bis zur Einschulung nutzen, um die Kinder motorisch auf das Schreibenlernen vorzubereiten. Dabei müssen sie gar nicht mit Worten üben, manchmal reicht auch schon ein „Krickelkrakel“, um den Umgang mit dem Stift zu lernen. Diese Feinmotorik, diese Feinbewegungen mit wenig Kraft, die Schnelligkeit, das kommt durch gezieltes Experimentieren.
Wo liegen die massivsten Schreibprobleme der Kinder und was kann man dagegen tun?
Diaz Meyer: Gemeinsam mit dem „Verband Bildung und Erziehung“ (VBE) führen wir aktuell eine bundesweite Umfrage unter Lehrerinnen und Lehrern aus Grundschulen und weiterführenden Schulen durch. Die Ergebnisse der Umfrage werden im Frühjahr veröffentlicht. Wir rechnen damit, dass die aktuelle Umfrage die Ergebnisse früherer Erhebungen bestätigt. 2015 hatten 51 % der Jungen Probleme mit dem Schreiben, bei Mädchen 31 %. Zu den häufigsten Problemen zählen u. a. eine verkrampfte Stifthaltung sowie unleserliches und zu langsames Schreiben. Danach haben immer mehr Kinder Schwierigkeiten, im Verlauf des Schriftspracherwerbs in der Grundschule eine „gut lesbare, flüssige Handschrift“ zu entwickeln.
Diese Probleme mit dem Handschreiben gibt es nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen europäischen Ländern. Denn trotz flächendeckender Schulpflicht verfügen 20 % der Jugendlichen und etwa 75 Millionen Erwachsene in Europa nur über unzureichende Lese- und Schreibfertigkeiten.
Was unterscheidet das Schreiben mit der Hand vom Tippen in eine Tastatur? Ist es nur die (Fein-) Motorik – oder mehr?
Diaz Meyer: Es gibt mehrere wissenschaftliche Studien, die ganz eindeutig belegen, dass das Tippen am Computer das Schreiben von Hand beim Lernen nicht ersetzen kann. Von Hand zu schreiben bedeutet, dass wir charakteristische Buchstabenformen schreiben. Der damit verbundene Bewegungsablauf wird im Gehirn verarbeitet, was wiederum das Schreiben- und Lesenlernen unterstützt. Schreibanfänger können etwa Buchstaben, die sie mit der Hand zu schreiben gelernt haben, besser erkennen. Beim Tippen handelt es sich dagegen immer um die gleiche Bewegung, egal ob ich ein A, ein S oder ein B drücke.
Merkt man sich Dinge, die man mit der Hand notiert oder im Unterricht mitgeschrieben hat, tatsächlich besser? Wenn ja, warum ist das so?
Diaz Meyer: Neurowissenschaftler weisen darauf hin, dass bei Kindern die motorische und die kognitive Entwicklung zusammenhängen. Durch das Schreiben der Buchstaben von Hand erlangen Kinder ein besseres Verständnis davon, welche Eigenschaften eines Buchstabens essenziell sind und welche nicht. Handschriftliche Notizen spielen eine zentrale Rolle für das Merken von Faktenwissen und für das inhaltliche Verständnis, nicht nur bei Kindern, sondern auch bei jungen Erwachsenen in der Ausbildung, wie es eine Studie der Universität Princeton belegt.
Sind die digitalen Medien „schuld“ daran, dass Kinder nur noch mangelhaft schreiben können? Es gab ja auch früher Kinder, die ihre Schwierigkeiten damit hatten.
Diaz Meyer: Ursächlich für diese Entwicklung ist sicher auch die Tatsache, dass sich die Kindheit in den vergangenen Jahrzehnten deutlich verändert hat. Kinder verbringen immer weniger Zeit mit Bewegungsspielen, was sich dann bei der Motorik, insbesondere auch der Fein- und Schreibmotorik, bemerkbar macht. Kindergarten und Schule sollten hier gegensteuern, denn es geht ja beim Handschreiben nicht um eine schöne, aber im Zeitalter der Digitalisierung doch verzichtbare Kulturtechnik, – sondern um echte Bildungschancen.
Dabei sehen wir die anstehende Digitalisierung der Schulen nicht als Gegensatz. Die zunehmende Digitalisierung bietet sogar Chancen, moderne Technik und Bewegungslernen miteinander zu verbinden.
Muss man tatsächlich die Handschrift „retten“, weil immer weniger Kinder sie beherrschen? Wie kann das gelingen?
Diaz Meyer: Handschreiben und digitale Technik sind keineswegs ein Widerspruch. „Die Medien ändern sich, aber die Handschrift bleibt.“ Das ist eine der Thesen der Symposiumsteilnehmer des „International Symposium on Handwriting Skills 2017“. Die Integration des Handschreibens in digitale Medien zeigt sich bereits in aktuellen technologischen Entwicklungen, die die Handschrift als Eingabemedium nutzen: z. B. beim interaktiven Whiteboard. Wichtig sind die Schreibbewegungen, die zur Schrift führen – die sogenannte „Schreibmotorik“.
Das Schreiben mit der Hand ist also absolut zukunftsfähig, auch wenn sich das Schreibmedium im Klassenzimmer 4.0 mit zunehmender Digitalisierung möglicherweise ändert. Der Grund dafür ist: Handschreiben bildet!
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