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Die Arbeitswelt ändert sich in einem unglaublichen Tempo. Wie kann man junge Menschen da auf dem Weg zum richtigen Job unterstützen?
Ali Mahlodji: Man kann sehr viel tun. Was man nicht machen darf, ist, den Jugendlichen eine Antwort zu geben. Nicht sagen: „Such dir diesen Job, der ist sicher, der hört sich toll an, der hat bei mir gut funktioniert.“ Ich sollte als Erwachsener wissen, dass es auf der Welt über 100.000 Jobtypen gibt, von denen es vor zehn Jahren noch nicht einmal die Hälfte gab. Wir leben in einer Arbeitswelt, in der man alle drei bis fünf Jahre den Job wechselt und 65 % der Jobs, die wir in den nächsten fünf bis sieben Jahren haben werden, heute noch gar nicht existieren. Was man also tun kann, ist die Person zu ermutigen und einzuladen, fünf bis zehn Jahre nach der Schule die Zeit zu nutzen, um Dinge zu probieren. Geh raus in die Welt! Es ist die größte Chance junger Menschen, ihren Weg zu finden. Und wenn es beim ersten Job nicht klappt, kein Problem. Den Job, den du einmal machen wirst, den gibt es vielleicht noch gar nicht. Die große Kunst am Erwachsenwerden ist, die Freiheit zu nutzen, die Bandbreite einmal anzusehen, um zu wissen, was du machen willst, wo deine Talente liegen – und was du nicht machen willst.
Müssen dafür die Eltern nicht einen langen finanziellen Atem haben?
Mahlodji: Überhaupt nicht. Eltern sollten den Jugendlichen klarmachen: Du musst auf eigenen Beinen stehen. Mach irgendeinen Job mit dem Wissen, du lernst was. Wenn er keinen Spaß mehr macht, mach was anderes. Nein, nein. Das heißt überhaupt nicht, dass Eltern ihre Kinder aushalten sollen. Aber man kann den Jugendlichen das Gefühl geben: Du musst beim ersten Job nicht alles richtig machen. Steig aus, gib dir Zeit und sieh es als eine Art Training.
Viele setzen auf den Schritt in die Selbstständigkeit, Start-ups schießen wie Pilze aus dem Boden. Kann das der richtige Weg sein?
Mahlodji: Wenn man sich die Zahlen anschaut von denen, die sich selbstständig machen, sind die alle schon weit über 30. Den Leuten, die gründen wollen, sage ich: „Mach, aber mach es nicht alleine, such dir Mentoren und bleib immer ein Lernender.“ Den optimalen Zeitpunkt gibt es nicht. Der Tag, an dem man sagt: „Jetzt habe ich alles beisammen, um gründen zu können“, der Tag wird niemals kommen. Das ist wie beim Heiraten oder Kinderbekommen.
Arbeit soll auch Sinn machen. Aber wie definiert man Sinn heute im Gegensatz zu früher?
Mahlodji: Die Wahrheit ist, dass der Sinn für Menschen schon immer relevant war, aber früher ging es in der Arbeit nicht um den Inhalt, sondern um einen Job, mit dem man das Leben genießen konnte. Damals war das Ziel der Arbeitswelt, ein Haus zu bauen, Karriere zu machen, Status zu haben, ein tolles Auto, einen lebenslangen Job und dann eine sichere Pension. Das Fundament dafür war das Versprechen des Arbeitgebers: Wenn du alles richtig machst, eine gute Ausbildung hast, bin ich für dich da. Dann kam die Finanzkrise. Die Arbeitgeber können dieses Versprechen nicht mehr einhalten, es gibt keinen lebenslangen Job mehr, auch nicht in staatlichen Unternehmen.
Es gab damals schon gute Artikel, in denen man schrieb, die Arbeitswelt werde in zehn Jahren so komplex werden, dass sich Menschen eine neue Orientierung suchen, Stichwort Selbstverwirklichung. Junge Menschen sind realistisch. Sie sagen: „Ich bin schon bereit, mich einzubringen, aber nicht um jeden Preis und nur dann, wenn es für mich Sinn macht.“ Früher hat man gerne auch auf die Freizeit verzichtet. Dafür hat man viele andere Ziele erreichen können. Heute sagen die jungen Leute: „Hey, mir ist die Freizeit genauso wichtig.“ Es gibt zum Beispiel viele Jungväter, die Teilzeit arbeiten, weil sie auch ihre Vaterrolle wahrnehmen wollen.
Lohn, Mitbestimmung, Selbstverwirklichung oder Verantwortung? Welche Kriterien machen einen guten, sinnvollen Arbeitsplatz aus?
Mahlodji: Es kommt auf das Belohnungssystem an, das man gewohnt ist. Wer ein Leben lang von den Eltern hört, dass nur die Kohle zählt und man nichts zu verschenken habe, der wird sagen: „Das Wichtigste ist das Geld.“
Aber die Wahrheit ist: Der Mensch ist ein Gemeinschaftswesen. Natürlich müssen die Hygienemaßnahmen wie Geld auch passen, aber ganz wichtig sind Wertschätzung und Vertrauensvorschuss. Du gehörst dazu, vom ersten Tag an. Du wirst nicht belehrt, es gibt kein „Werde einmal erwachsen“, du bist Teil des Ganzen. Dabei muss sich der Arbeitgeber in die Person hineinversetzen. Erst wenn er die individuellen Belohnungsmuster erkennt, schafft er den richtigen Arbeitsplatz. Bei dem einen heißt das, dass du sofort Verantwortung übernimmst. Andere sind mit Entscheidungen oder mit dem Selberdenken überfordert, wollen Sicherheit, die sollte man dann auch in ihrer Rolle einbinden, sonst haben sie Angst, sind unsicher, überfordert. Auch bei Frauen muss man sich in die Lage hineinversetzen, wie sie geprägt wurden. Die eine ist mit klassischen Verhaltensmustern aufgewachsen, die andere sagt: „Ich kann was ich will.“
Das klingt nach hohem persönlichem Einsatz für Personalchefs.
Mahlodji: Ja, das ist wie bei einem guten Fußballcoach. Der kann ja auch nicht jeden Spieler überall einsetzen. Früher war das ganz anders: Wenn du zu uns kommst, macht der Job zwar keinen Spaß, aber wir garantieren dir ein lebenslanges Arbeiten. Und jetzt plötzlich wird die Arbeitswelt individuell. Das geht relativ leicht, wenn man in die Empathie geht. Das ist die Fähigkeit, sich auf das Gegenüber einzulassen, den anderen zu akzeptieren wie er ist.
Die Nachwuchssuche gilt als schwierig. Wie schafft es ein Unternehmen, bei Lehrlingen und jungen Jobsuchenden als attraktiv zu gelten?
Mahlodji: Ganz wichtig bei der Lehrlingssuche: Da geht es nicht um den Aufbau einer Befehlskette, da geht es um Beziehungsaufbau. Als gutes Beispiel kenne ich einen Bäcker in einem kleinen Ort in Deutschland. Bei ihm haben die Lehrlinge schon im ersten Lehrjahr die Erlaubnis, eigene Kreationen vorzuschlagen, die kommen zum Test auch in den Laden, und wenn es funktioniert, kommen sie ins Sortiment. Dort wissen die Lehrlinge, ich muss nicht erst fertig lernen, ich kann von Anfang an kreativ sein. Der Bäcker hat auch seine Prozesse im Ablauf so geändert, dass die Arbeitszeit 1,5 Stunden später beginnt. Trotzdem sind die Sachen frisch, aber die Leute müssen nicht mehr so früh kommen. Der braucht keine Werbung für sich machen, das spricht sich herum. Der Bäcker hat keine Nachwuchsprobleme wie die anderen im selben Ort. Er hat den Spieß umgedreht, für ihn machen seine eigenen Lehrlinge Werbung.
Ali Mahlodji
Ali Mahlodji wurde im Iran geboren, ist Flüchtling, Schulabbrecher, hatte über 40 Jobs, ist Mitbegründer der Onlineplattform „watchado“, EU-Jugendbotschafter, EU Ambassador for the New Narrative und seit 2018 Trendforscher beim Zukunftsinstitut sowie Autor des Work Report 2019. „Finde deinen Traumjob“ heißt es auf der Internet-Berufsorientierungsplattform „whatchado.com“. In Videointerviews erzählen Menschen aus der ganzen Welt, wer sie sind, was sie tun und wie sie das erreicht haben. Dazu gibt es viele Tipps und Jobangebote für Berufseinsteiger/innen.
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