Wort zum Sonntag
Die Aufforderung, den Fremden, den Nächsten, zu lieben, wie sich selbst, zieht sich wie ein roter Faden vor allem durch die Texte des Alten Testaments, findet sich aber auch im Matthäusevangelium, sagt die Pastoraltheologin Regina Polak. So steht dort im Kapitel 25,35, „ich war fremd und obdachlos und ihr habt mich aufgenommen.“ Das Spannende daran ist laut Polak, dass speziell im Alten Testament die Texte großteils von Menschen geschrieben worden seien, „die selber Minderheiten waren, die Erfahrungen mit Flucht, mit Migration, mit Vertreibung, mit Deportation, mit Leben im Exil und in der Diaspora hatten. Sie erfuhren am eigenen Leib, wie es ist, vertrieben zu werden, rechtlos zu sein, als Fremde wahrgenommen zu werden, in einer Minderheit zu leben.“
Mit dem Begriff des Fremden verbindet man heute vor allem in Europa eine kulturelle Dimension. Im Alten Testament gehe es vorrangig um die Frage der Teilhaberechte und um die Erfahrung, dass durch die imperialen Großmächte wie der Ägypter, der Assyrer oder der Babylonier die eigene Identität bedroht wird, erklärt die Pastoraltheologin. „Die Texte zeigen auf, dass Betroffene gelernt haben, was es braucht, um in einer Gesellschaft von Mehrheiten und Minderheiten und auch grundsätzlicher Verschiedenheiten friedlich miteinander leben zu können.“ Sehr viele Stellen im Alten Testament erinnern immer wieder daran: „Vergiss nicht, du warst selber ein Fremder in Ägypten und deswegen bist du jetzt verpflichtet, Fremde gerecht und human zu behandeln. Das ist ein biblisches Schlüsselthema“, so Polak.
Eine zentrale Rolle spielt in der Bibel auch die Gastfreundschaft. In vielen Ländern, speziell im arabischen Raum, sei das auch heutzutage so, sagt Polak. „Es scheint eher ein westliches Phänomen zu sein, dass die Gastfreundschaft bei uns ein bisschen verkümmert ist. In der Bibel ist der Gast derjenige, der zu schützen ist und der entsprechende Rechte hat.“ Eine theologische Deutung zeigt laut Polak zudem auf, „dass sich in der Erfahrung mit Fremdheit auch Gott zeigen kann. So wird dem geflüchteten Moses im Exil der Name Gottes offenbart. In der Fremde. Gott ist nicht statisch, sondern ein Gott, der unterwegs ist, der beweglich ist.“
Nach biblischem Verständnis ist jeder einzelne Mensch ein Abbild Gottes, der die göttliche Wirklichkeit in der Schöpfung repräsentiert – „und zwar völlig unabhängig davon, welcher Zugehörigkeit, weil wir eine Menschheitsfamilie sind“, führt die Theologin weiter aus. Natürlich sei diese Vielfalt der Menschen „nicht immer und überall bereichernd und problemlos. Die Anerkennung von Pluralität erhöht das Konfliktpotential. Das ist überhaupt kein Thema. Und damit keine Minderheiten ausgeschlossen werden, braucht es Recht und Gesetz.“
Biblische Texte können außredem das Bewusstsein gegen Fremdenfeindlichkeit schärfen. So seien laut Polak „Grundsatzprinzipien wie die Anerkennung der Würde, die Einzigartigkeit jedes einzelnen Menschen, die Verpflichtung zu einer Gerechtigkeit, die speziell marginalisierte Gruppen im Blick hat und Teilhabe ermöglicht, in der biblischen Tradition zu finden.“
Siehe auch:
Wort zum Sonntag
Jetzt die KIRCHENZEITUNG 4 Wochen lang kostenlos kennen lernen. Abo endet automatisch. >>