Elisabeth Wertz ist Religionslehrerin und Pastoralassistentin im Südburgenland (derzeit in Elternkarenz).
„Wir werden an der Straße entlanggehen, an Lieferautos vorbei, die die Geschäfte beliefern, und an Putzkolonnen, die die Straße sauber machen.“ Abt Nikodemus Schnabel beschreibt, wie die Heilige Nacht bei ihm in Jerusalem aussieht. „Das ist überhaupt keine Weihnachtsstimmung, es ist ein Wochentag, wo die Nacht genutzt wird, um Schaufenster zu putzen oder Waren anzuliefern.“
Christen und Christinnen muss man im Heiligen Land mit der Lupe suchen, weil es so wenige gibt. 1,8 Prozent sind es – nicht einmal jeder Fünfzigste ist christlich, und diese kleine Gruppe teilt sich auf drei verschiedene Weihnachtstermine auf. „Weihnachtsstimmung“ wie in Mitteleuropa findet man daher in Israel und Palästina nicht, bemüht sich Abt Nikodemus Schnabel von der Jerusalemer Dormitio-Abtei klarzumachen. Es gebe die Westchristen, die am 25. Dezember feiern, die Ostkirchen, die nach dem julianischen Kalender feiern, „deren 25. Dezember ist unser 7. Jänner“, und die Armenier im Heiligen Land haben auch einen alten Kalender: „Sie feiern an ihrem 6. Jänner Weihnachten, was in unserem Kalender der 19. Jänner ist.“ So weit, so komplex. Der Benediktinerabt beschreibt die Situation: „Man muss quasi wirklich ein Trüffelschwein sein, um zu finden, wo man Weihnachten im Straßenbild sehen kann.“
Allerdings gebe es auch unter der jüdischen Bevölkerung ein gewisses Interesse an Weihnachten. „Wir haben ja im Land ungefähr 1,5 Millionen israelische Juden mit Wurzeln in der ehemaligen Sowjetunion, also Russen, Ukrainer, Kasachen und so. Viele von denen sind eher säkular und sagen: ‚Ich stelle mir trotzdem einen Christbaum in den Garten.‘ Da gibt es dann immer Diskussionen: Darf man das? Darf man das nicht?“ Ein anderer Berührungspunkt ist die große Vigil um Mitternacht in der Dormitio-Abtei. Da gibt es Psalmen, Lesungen, „Stille Nacht“ und „Oh, du fröhliche“ auf Deutsch, was eine besondere Zielgruppe anlockt, wie Abt Nikodemus Schnabel erzählt. „Da kommen hunderte israelische Juden. Sie sagen: ‚In den Nachrichten ist Weihnachten. Bei uns in Tel Aviv ist kein Weihnachten‘ – es ist ja Werktag. Oft sind es Leute, die sich erinnern: ‚Meine Großeltern oder Urgroßeltern haben Wurzeln in Wien, haben Wurzeln in Frankfurt, die haben immer erzählt, dass man sich gegenseitig eingeladen hat.‘ Es ist auch das jüdische Chanukka-Fest, das sozusagen parallel dazu ist. Und dann singen sie die Weihnachtslieder mit, sogar ohne Liedzettel. Sie sehen das als kulturellen Auftrag.“
Da predige Abt Nikodemus dann. „Und ich glaube, ich bin wirklich der einzige katholische Priester, der zu Weihnachten eine Predigt vor lauter Juden hält.“ Er möchte aber nicht missionieren in der Heiligen Nacht, schränkt der Abt ein. „Ihr müsst mir versprechen: Ihr geht alle wieder als Juden hier raus, dann predige ich weiter.“
Am Ende dieses Gottesdienstes gibt es ein Ritual, das einzigartig ist: Es wird eine Papierrolle gesegnet, auf der tausende Namen stehen. Wer auch immer möchte, kann der Dormitio-Abtei Namen anvertrauen. „Den eigenen Namen oder den von Verstorbenen, von Lebenden, von Menschen, die man liebt, Menschen, mit denen man sich schwertut …“ Die Namen werden auf die Papierrolle gedruckt und in der Heiligen Nacht von Jerusalem nach Bethlehem getragen. Der Straße entlang, neben den nächtlichen Lieferwagen und Putzkolonnen … Zehn Kilometer lang ist die Nachtwanderung. „Durch den Checkpoint Richtung Bethlehem, wodurch wir mit der politischen Realität des Landes konfrontiert sind. Gegen 04:30 Uhr kommen wir in Bethlehem an.“ Meistens würde gerade der Muezzin die gläubigen Muslime zum Frühgebet aufrufen, während die Pilgergruppe in die Geburtsgrotte hinuntergeht, die um diese Uhrzeit beinahe menschenleer ist. „Also“, fasst Abt Nikodemus noch einmal zusammen: „Ich feiere zuerst mit lauter interessierten jüdischen Israelis, gehe dann an den Putzkolonnen und Lieferwagen vorbei, durch den Checkpoint, werde vom Muezzin begrüßt und bin schließlich am Geburtsstern in der Geburtsgrotte. Die einzigen anderen, die neben uns da sind, sind Migranten. Da muss ich sagen: Mehr Weihnachten im Sinne von ‚Gott wurde Mensch‘ lässt sich kaum vorstellen.“
Die verfahrene politische Lage im Nahen Osten könne er dabei nicht ausblenden. Aber wenn der Abt an der Geburtsgrotte in Bethlehem kniet, schöpft er selbst Hoffnung. „Dann denke ich mir: All diese Menschen, die Mächtigen, die sich hier aufplustern, diese Zyniker haben nicht das letzte Wort. Das letzte Wort über mein Leben, über das Leben der anderen Menschen, über diese Welt, hat eben der, dessen Geburt wir in Bethlehem feiern. Das gibt mir echt Hoffnung: dass er das letzte Wort hat und nicht die anderen.“ Der Trost tut dringend not. Auch wenn in Gaza Waffenruhe herrsche: „Frieden ist etwas anderes“, weiß der Abt der Dormitio-Abtei. „Das ist ja das Perverse am Krieg: Er zerstört schnell, in Sekunden. Aufzubauen dauert lange — und damit meine ich nicht nur das Materielle, sondern das Vertrauen wieder aufzubauen, einander wieder in die Augen zu schauen, die anderen als Menschen wahrnehmen.“ Das würde wohl Generationen brauchen.
Eine kleine Pflanze Hoffnung sieht Abt Nikodemus in den Kindern der zwei christlichen Pfarren im Gaza-Streifen, katholisch und orthodox. Sie würden jeden Tag um Schutz für alle Menschen beten, für Palästinenser, Israelis, für Juden und Muslime. Es gebe aber auf allen Seiten Menschen, die auch in härtesten Kriegszeiten über Versöhnung nachdenken wollen. Das stünde im Kontrast zur herrschenden Politik.
„Wir haben auf beiden Seiten Politiker übelster Sorte. Sei es, wenn man der Hamas zuhört oder Teilen der jetzigen Regierung in Israel: Das ist Zynismus pur, Menschenverachtung.“ Es werde gesagt, der andere sei kein Mensch, sondern eine Ratte, eine Kakerlake, ein Monster. Da werde dehumanisiert und dämonisiert, klagt Abt Nikodemus. „Ich glaube, da wäre das
abrahamitische Menschenbild hilfreich: Wie wir es in der Bibel haben (Genesis 1, 26–27) – jeder Mensch ist nach dem Bild Gottes geschaffen – oder im Koran (Sure 2, Vers 30): Jeder Mensch ist Stellvertreter Gottes. Wenn wir die Kostbarkeit jedes menschlichen Lebens in den Mittelpunkt allen politischen Denkens stellen, dann ist der allererste Schritt, den anderen als Mensch zu sehen und Empathie aufzubringen. Dann zuzuhören – und nicht diesen Opfer-Wettbewerb mitzumachen: ‚Nur ich leide, nur mein Leid zählt.‘ Das ist Propaganda beider Seiten. Zuhören und auch ertragen, was der andere zu sagen hat. Und dann: Kompromiss. Da bin ich voll bei Amos Oz, der gesagt hat, was dieser Region fehlt, ist der Kompromiss. Wir haben zwei Macho-Gesellschaften.“ Politiker ließen sich dafür feiern, dass sie keinen Millimeter nachgeben. Es müssten aber beide Seiten bereit sein, schmerzliche Abstriche zu machen. „Die jüdischen Israelis sehnen sich nach Sicherheit, die Palästinenser nach Freiheit und Selbstbestimmung.“ Die Lage der Dormitio-Abtei zwischen der vorwiegend jüdischen Neustadt und der hauptsächlich muslimisch-palästinensischen Altstadt sei „eine Gnadenlage“, denn, so der Abt, „wir sind ein Ort, wo sich beide Seiten hintrauen. So können wir eine kleine Hoffnungsinsel in einem Ozean von Leid sein.“
Namen nach Bethlehem schicken unter:
dormitio.net/weihnachtsaktion

Elisabeth Wertz ist Religionslehrerin und Pastoralassistentin im Südburgenland (derzeit in Elternkarenz).
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