Christian Landl ist Diakon und Seelsorger in den Pfarrgemeinden Schörfling, Weyregg und Steinbach am Attersee.
Herr Professor Marschütz, was ist eine Familie?
Gerhard Marschütz: Die Antwort scheint einfach, ist es aber nicht. Ich kann einerseits nach Leitbildern fragen, andererseits nach der Realität der verschiedenen Familienformen. Auch die Leitbild-Frage ist nicht eindeutig zu beantworten. In unserer Gesellschaft herrscht das bürgerliche Bild der Kernfamilie vor: Vater, Mutter, verheiratet und leibliche Kinder. Geschichtlich und weltweit gesehen gibt es viele Modelle. Der kleinste gemeinsame Nenner ist, dass mindestens zwei Generationen zusammenleben, von denen eine für die andere sorgt. Also in irgendeiner Form ein Elternteil mit einem Kind.
Die Sehnsucht nach Familie ist bei jungen Menschen groß. Warum glückt sie nicht immer?
Marschütz: Die Familienmitglieder leben nicht nur im System Familie, sondern etwa auch im System Beruf, wo es oft um Durchsetzungsvermögen, Härte und Karrieredenken geht. Zwischen diesen Werten und den Familienwerten wie Liebe, Vertrauen und Geborgenheit kann es knirschen.
Außerdem sind Frauen häufig zwei- und dreifach belastet. In Zeitbudget-Studien, wer was im Haushalt macht, schneiden die Männer nicht wirklich gut ab. Leider wird die Vereinbarkeit von Beruf und Famillie oft ausschließlich als Frauenthema diskutiert. Dazu kommt noch eine strukturelle Rücksichtslosigkeit gegenüber Familien in der Gesellschaft. Ohne Familien kann sich die Gesellschaft zwar nicht entwickeln, aber das wird unzureichend anerkannt.
Wenn es zu sehr knirscht, kommt es in Familien auch zu Gewalt. Frauenmorde, als Spitze des Eisbergs, geschehen fast immer im Familienkreis. Was hilft dagegen?
Marschütz: Opfer von häuslicher Gewalt sind nicht nur Frauen, aber überwiegend. Das liegt an ungleichen gesellschaftlichen Machtverhältnissen, wie die sogenannte „Istanbul Konvention“ gegen häusliche Gewalt von 2011 feststellt. Daher setzt die Konvention des Europarats bei Geschlechtergerechtigkeit an.
Österreich hat die Konvention 2013 in Kraft gesetzt, Ungarn z. B. bis heute nicht. Warum?
Marschütz: Ungarns Parlament wirft der Istanbul Konvention vor, „destruktive Gender-Ideologien“ zu unterstützen. Eine massive „Anti-Gender“-Bewegung kämpft dagegen, dass man Geschlechterunterschiede als soziale Übereinkunft hinterfragt. Das traditionelle Geschlechterverständnis war stark biologistisch. Frauen seien „von Natur aus“ für Haushalt und Kindererziehung geeignet, Männer „von Natur aus“ für den öffentlichen Bereich.
Die Genderforschung stellt das infrage und zeigt auf, dass das Verständnis von Geschlecht auch durch soziale Diskurse gebildet wird. Daher wird ihr vorgeworfen, dass sie biologische Aspekte ausklammert. Das trifft aber nicht zu.
Papst Franziskus hat die ungarische Familienpolitik in Budapest ausdrücklich gelobt ...
Marschütz: Weder Benedikt XVI. noch Franziskus scheinen angemessen zu wissen, worum es in den Gender-Studies geht. Da wird ein Feindbild aufgebaut, das der katholischen Denklogik engegengesetzt zu sein scheint. Franziskus nimmt mit seiner Ehe- und Familientheologie, wie seine Vorgänger, klare Ausgrenzungen vor. Diese betreffen etwa Personen, die eine gleichgeschlechtliche Beziehung leben möchten.
Die „Church of England“ hat sich zu Jahresbeginn offiziell für die Segnung homosexueller Paare entschieden. Das löste fundamentale Proteste innerhalb der anglikanischen Kirche in anderen Erdteilen aus. Sehen Sie diese Gefahr auch in der katholischen Kirche?
Marschütz: Franziskus sprach schon vor Jahren von der Notwendigkeit einer heilsamen Dezentralisierung. Er löst das aber kaum ein. Es gibt Ungleichzeitigkeiten in der Kirche, ja. Aber warum sollen westliche Gesellschaften noch einmal 100 Jahre warten?
Vor 30 Jahren ist auch bei uns das Thema Homosexualität noch im Strafrecht behandelt worden. In Europa ist das erst in den letzten zwei, drei Jahrzehnten weggefallen. Darum sollten wir nicht hochnäsig sein, sondern sagen: Okay, da gibt es unterschiedliche Geschwindigkeiten. Warum kann man manche Themen nicht dezentralisiert unterschiedlich lösen?
Denken Sie, dass der synodale Prozess da etwas in Bewegung bringt?
Marschütz: Es gäbe schon richtige Ansätze beim Synodalen Weg in Deutschland. Sie werden aber nicht zugelassen. Da wird alsbald gesagt, das sei nur ein deutsches Problem. Und selbst wenn es nur ein deutsches Problem wäre! Auch dann ist es doch wichtig, das Problem als Problem ernstnehmen zu dürfen. Und nicht so zu tun, als ob das alles nur Theologen wären, die sich einbilden, den deutschen Diskurs der Gesamtkirche aufzwingen zu müssen. Ich kenne einige von ihnen, sie bilden sich gar nichts großartig ein. Sie ringen darum, wie Kirche in ihrem Kulturbereich zukunftsfähig sein kann.
Ist Papst Franziskus auf diesem Auge blind?
Marschütz: Er hat es zwar geschafft, dass der Katechismus die Todesstrafe unzulässig nennt, aber im Bereich von Ehe, Familie und Sexualität hat er nichts verändert. Das ist ihm offensichtlich zu heiß. Zudem gibt es auch heftige Gegendynamiken. Bereits die behutsamen Formulierungen zu wiederverheirateten Geschiedenen in Amoris laetitia haben ausgereicht, dass es von einigen Kardinälen als nicht mehr katholisch markiert wurde.
Familien sind großen Spannungen ausgesetzt. Was kann die Familie retten?
Marschütz: Ungebrochen gibt es eine große Sehnsucht danach, Beziehung zu leben, Kinder zu zeugen, Familie zu werden. Wie gut das gelingen kann, ist auch von guter Familienpolitik abhängig. Ich denke nicht, dass Familie ausstirbt.
Männer wollen angeblich die Welt entdecken, während sich Frauen gerne um ein gemütliches Zuhause kümmern. Ist eine Frau, die gerne die Welt entdeckt, weniger Frau? Und ein Mann, der gerne für ein schönes Heim sorgt, weniger Mann?
Viele Rollenbilder sind austauschbar. Trotzdem wirken sie. Üblichkeiten und Erwartungen der Gesellschaft haben Auswirkungen auf das Verhalten von Mädchen und Buben, Frauen und Männern.
Wie viele Klischees Wurzeln in biologischen Unterschieden haben und wie viele davon kulturell geprägt sind, darüber wird viel geforscht. Die Ergebnisse sind nicht eindeutig, vieles ist im Entstehen.
Da bisher zahlreiche Eigenschaften biologistisch begründet wurden – bis hin zur Meinung, Frauen könnten aufgrund ihres Frauseins besser für Kinder kochen – forscht man derzeit viel in die andere Richtung: Was wäre, wenn fast alle unsere Meinungen über Männer und Frauen eine Frage der Kultur wären? Wenn wir das Zusammenleben auch anders organisieren könnten?
Das übliche Bild der Kernfamilie – Mama, Papa, leibliche Kinder – ist eine relativ junge Erfindung der bürgerlichen Gesellschaft. Familie kann ein Ort der Geborgenheit ebenso sein wie ein Ort der Gewalt. Wie können Beziehungen gelebt werden? Und welche Rolle spielen dabei Rollenbilder?
Diese Fragen sind Teil der Forschungsrichtung, die sich „Gender-Studies“ nennt. Gender (sprich: Dschender) bezeichnet das Geschlecht von Menschen, wie es sich kulturell entwickelt hat und zur gelebten Norm geworden ist. Gender-Studies reflektieren unter anderem, welchen Einfluss Rollenbilder auf das Zusammenleben haben und wie veränderbar sie sind.
Am 11. Mai 2011 wurde das „Übereinkommen des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“ in Istanbul unterzeichnet – kurz: „Istanbul Konvention“. Die ungleichen gesellschaftlichen Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen gelten als Hauptursache von geschlechtsspezifischer Gewalt. Die Gleichstellung von Frauen und Männern soll vor individueller Gewalt schützen.
Christian Landl ist Diakon und Seelsorger in den Pfarrgemeinden Schörfling, Weyregg und Steinbach am Attersee.
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