Wort zum Sonntag
Geschlechtlichkeit nennt Papst Franziskus „Gottes wunderbares Geschenk für seine Geschöpfe“. So positiv wie das nachsynodale Schreiben „Amoris laetitia“ (Die Freude der Liebe) vor bald acht Jahren hatte kein päpstliches Dokument davor Sexualität beschrieben.
Auch in anderen Zusammenhängen machte Franziskus klar, dass Lust etwas Göttliches sei. „Sex ist eine wunderschöne Sache“, äußerte der Papst in einer Dokumentation im Frühjahr 2023.
Dass Papst Franziskus neue Töne in Bezug auf Geschlechtlichkeit anschlägt, passt in eine Zeit des Paradigmenwechsels seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil. „Wir befinden uns immer noch im Rezeptionsprozess des Zweiten Vatikanums“, ordnet der Moraltheologe Martin M. Lintner die Entwicklung ein.
Pater Martin Maria Lintner OSM ist Ordentlicher Professor für Moraltheologie und Spirituelle Theologie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Brixen.
Dazu gehört etwa, dass eine Eheschließung nicht nur zum Zweck der Fortpflanzung erfolgt, sondern einen Eigenwert bekommt. „Vor dem Konzil galt Ehe in erster Linie als rechtliche Angelegenheit mit dem Zweck der Familiengründung. Emotion war eher eine Gefahr für die Ehe – denn damit kommt Lust ins Spiel, und das war Sünde.“
Die Beziehungsethik, die Martin Lintner in seinem jüngsten Buch historisch und systematisch darlegt, entfaltet eine personale Sicht auf die Ehe, die nicht mehr in erster Linie ein Vertrag ist. „Die Institutionalisierung der Ehe galt vorkonziliar als Legitimation für alles, was in der Partnerschaft geschah. Das war ein blinder Fleck der katholischen Tradition. Gewalt oder sexuelle Nötigung innerhalb der Ehe hatte die Frau auszuhalten als geringeres Übel, um den Mann nicht zur Unkeuschheit zu verleiten, sprich zu außerehelichem Geschlechtsverkehr oder zu Masturbation.“ Als „klassisches Beispiel“ nennt der Moraltheologie-Professor Geschlechtsverkehr mit dem betrunkenen Ehemann.
Lust zu haben galt vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil vor allem deshalb als gefährlich und sündhaft, weil man davon ausging, dass es die Partnerin oder den Partner zum Lustobjekt degradiert. Martin Lintner: „Das kann natürlich sein, es muss aber nicht sein.“ Eingebettet in eine Beziehung der Liebe und der gegenseitigen Verantwortung entwürdige Lust die Menschen nicht, sondern stärke die Sehnsucht nacheinander und die Freude aneinander.
Den aktuellen Paradigmenwechsel zur Geschlechtlichkeit, also das grundlegende Umdenken, gestaltet Lintner mit seinem 688 Seiten starken Buch „Christliche Beziehungsethik“ aktiv mit. Ziel ist, „dass das Lustvolle nicht geleugnet wird, sondern integriert in etwas Größeres.“
Das Lustvolle in einer Beziehung beschränkt sich nicht auf Geschlechtlichkeit. Daher lautet der Titel des Buches auch nicht „Sexualmoral“: Es geht nicht um Sexualität an sich, sondern um Sexualität als Teil von Menschen, die in Beziehungen stehen.
„Sexualität ist eine Kraft der Beziehung – egal, ob ich partnerschaftlich oder zölibatär lebe“, sagt der Moraltheologe und Ordensmann. Mit den mit der Sexualität verbundenen emotionalen Bedürfnissen umgehen zu lernen, sei Aufgabe jedes Menschen, unabhängig davon, ob jemand in einer Partnerschaft lebt oder nicht – „dass ich mich frage, wie ich mit meiner Körperlichkeit und meinen Bedürfnissen umgehe, die auch in einer Partnerschaft nie zu 100 Prozent erfüllt werden.“ Auch Kleriker und Ordensleute würden ihre Sexualität nicht beim Eintritt ins Seminar oder ins Kloster an den Nagel hängen. „Das hat man vielleicht in der Vergangenheit oft tatsächlich so verstanden.“
Man müsse sich fragen, warum die bisherige Sexualmoral offensichtlich nicht imstande war, die Leute im Herzen der Kirche zu einem verantwortungsvollen Umgang mit ihrer Sexualität zu begleiten, sodass es zu Missbrauch und Gewalt durch Kleriker kommen konnte. „Der Missbrauchsskandal ist ein Anlass, dass wir die Erneuerung der Sexualmoral und Beziehungsethik in Angriff nehmen. Das Gesamtprojekt der Erneuerung ist aber wesentlich größer.“
Es geht nicht darum, eine neue normative Lehre der Gebote und Verbote aufzustellen. Doch es braucht Richtlinien, denn in der Körperlichkeit und Emotionalität ist ein Mensch sehr verwundbar. „Es stellt sich die Frage nach den Grenzen, die wir nicht unterschreiten dürfen. Sexualität kann ein Instrument für Manipulation, Machtausübung und Gewaltanwendung sein“, gibt Martin Lintner zu bedenken. Sexualität kann also nicht gänzlich romantisiert werden.
Die größten Menschenrechtsverletzungen geschehen im 21. Jahrhundert im Bereich des Menschenhandels zur Zwangsprostitution und in der sexualisierten Kriegsführung. Auch auf der individuellen Ebene ist sexuelle Fremdbestimmung verbreitet. Zwanghaftes Verhalten wie Sex- oder Pornosucht nimmt zu. Worauf es in der Beziehungsethik ankommt, ist die unbedingte Grenze zwischen Sexualität und Gewalt zu hüten und die Selbstbestimmtheit jeder Person zu ermöglichen.
Daher ist es gleichzeitig wichtig, eine positive „Befähigungsmoral“ zu zeichnen, so Lintner. „Was befähigt uns zu einem selbstverantworteten, gesunden und liebevollen Umgang mit uns selbst und in Beziehungen, statt: Wer darf was wann mit wem. Das ist bezogen auf die kirchliche Lehre ein neuer Ansatz.“ Selbstbestimmung in Beziehungen tritt an die Stelle von Fremdbestimmung. Das Gewissen spielt dabei eine wesentliche Rolle.
Die Erklärung „Fiducia supplicans“ (Das flehende Vertrauen), die vor Weihnachten vom vatikanischen Glaubensdikasterium über die Segnung „irregulärer“ Partnerschaften veröffentlicht wurde, verändert nichts an der kirchlichen Sexuallehre.
Doch liegt sie auf einer Linie mit früheren Äußerungen von Papst Franziskus zu einem neuen Verständnis von Geschlechtlichkeit. „In der Erklärung wird anerkannt, dass es über die Ehe hinaus Beziehungen gibt, in denen etwas wahr, gut und menschlich gültig ist.“ Die Erklärung respektiert die persönliche Verantwortung für Entscheidungen in Fragen der Partnerschaft und Sexualität. Dieser neue Umgang mit den Menschen werde rückwirkend auch die Lehre der Kirche beeinflussen, ist Martin Lintner überzeugt.
Die Erklärung „Fiducia supplicans“ (Das flehende Vertrauen), die am 18. Dezember vom vatikanischen Glaubensdikasterium veröffentlicht wurde und das Segnen von nicht zur katholischen Ehe zugelassenen Paaren (wie wiederverheirateten Geschiedenen oder gleichgeschlechtlichen Paaren) durch Priester unter bestimmten Bedingungen erlaubt, wird weltweit sehr unterschiedlich aufgenommen.
Während sich in Österreich manche kirchlichen Organisationen, wie zum Beispiel die Katholische Jugend Österreich, unzufrieden zeigen, dass homosexuelle Paare den heterosexuellen nicht gleichgestellt wurden, freuen sich andere über den Schritt, dem „noch wesentliche folgen müssen“ – so etwa der Leiter der Regenbogenpastoral in Österreich, Franz Harant.
Aus den Bischofskonferenzen von Österreich, der Schweiz und Deutschland kam vorwiegend Zustimmung, wenn auch mit unterschiedlichen Kommentaren zwischen „für uns ist das nichts Neues“ bis „bahnbrechende Entscheidung“. Nicht so von den Bischöfen in Ungarn, der Ukraine oder Kasachstan: Sie ließen an ihrer Ablehnung dieser Segnungen keinen Zweifel, wenn auch in unterschiedlicher Formulierung. Ungarns Bischofskonferenz verlangt von Seelsorgern, das Segnen von Paaren in einer nichtehelichen Gemeinschaft zu vermeiden. Kasach-stans Erzbischof sprach ein Verbot aus, diese Segnungen durchzuführen.
Ablehnung und Verbote kamen auch von zahlreichen afrikanischen Bischöfen wie etwa aus Kenia oder Malawi. Die stark auseinanderfallenden Reaktionen in den USA sind ein Abbild der extrem polarisierten Gesellschaft und Kirche in Nordamerika. Während manche Verantwortliche einen „Schritt nach vorne“ sehen, spielen andere die Bedeutung der vatikanischen Erklärung herab – so auch die offizielle Stellungnahme der US-amerikanischen Bischofskonferenz.
Der Präfekt des Glaubensdikasteriums, Kardinal Víctor Manuel Fernández, widersprach in einem „Tagespost“-Interview der Auffassung, dass Papst Franziskus ein liberaler Reformer sei. Fernández nahm dabei die Gelegenheit wahr, „einige deutsche Bischöfe“ zu kritisieren, die das nicht verstehen würden.
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