Wort zum Sonntag
Herr Professor Klieber, Kinderleichen, die in der Nähe von ehemaligen kanadischen Internaten für indigene Kinder entdeckt wurden, öffnen einen dunklen Teil der Kirchengeschichte. Ein Teil der Umerziehungs-Internate wurde katholisch geführt. Welche Rolle spielte die katholische Kirche im System der Residential Schools?
Rupert Klieber: Dieses System war keine rein katholische Sache, sondern eine Art „Joint venture“, eine Zusammenarbeit: Der kanadische Staat wollte seine indigene Bevölkerung nach den Vorstellungen der Zeit assimilieren, und die Kirchen boten Knowhow und Personal dafür. Das Residential School System wurde vom Staat bezahlt. Am Höhepunkt gab es etwa 80 Internate, davon waren 44 katholisch, etwas mehr als 20 waren anglikanisch, die United Church of Canada hatte etwa 13 und ein paar hatten die Presbyterianer. Die katholische Kirche erlebte im ausgehenden 19. Jahrhundert einen großen Schulaufbruch: Eine große Zahl von Schulorden und Internatsschulen wurde gegründet. Es waren also die entsprechenden Ordensgemeinschaften da, die solche Schulen überhaupt betreiben konnten.
Das galt auch für Europa …
Klieber: Ja, auch in Europa erlebten die Internatsgründungen einen Boom. Das waren diese gut 100 Jahre der katholischen Internate, von 1850 bis etwa 1960. Bei den Residential Schools in Kanada spielten jedoch mehrere Problemfelder zusammen. Einerseits, wie Europäer mit indigenen Völkern umgingen, andererseits, wie die katholische und andere Kirchen mit „zu Missionierenden“ umgingen. Dazu kam noch die Internatsproblematik: Auch im europäischen ländlichen Raum war höhere Bildung nur über Internate zugänglich. Sie waren eine große Chance. Weite Schichten der Bevölkerung sind dadurch erst in den Genuss von höherer Schulbildung gekommen. In Kanada war die Lage jedoch anders. Diese Internate waren nicht für die höhere Bildung da, sondern für die Grundbildung. Es waren Volksschulen für die indigene Bevölkerung. Das war sehr zweifelhaft, weil man sie mit der Attitüde der europäischen Überlegenheit gegründet hat.
Die europäische Überlegenheit pflegte man auch in anderen „Missionsgebieten“. Was war in Kanada anders als in Afrika oder Asien?
Klieber: Die Probleme haben sich hier unglücklich verschränkt. Man wollte die Indigenen der eigenen Kultur entreißen und sie zu „zivilisierten“ Europäer/innen machen. Daher hat man sie möglichst weit von zuhause weggeholt, hat die Schulen nicht dorthin gebaut, wo Indigene lebten, sondern über hunderte Kilometer entfernt, um den Kontakt mit den Eltern und dem Milieu bewusst zu unterbinden. Das ist vergleichbar nur mit dem, was man in Australien mit den Aborigines gemacht hat. Das war in anderen Missionsschulen auch Thema, aber nicht so stark, weil die Schulen oft in Dörfern waren, wo die Leute gelebt haben. Man hat sie ihrem Milieu nicht völlig entrissen, wie man das in Kanada gemacht hat. Natürlich war es immer eine Art Entfremdung. Auch für die Kinder, die von Bergbauernhöfen in den Alpen in ein katholisches Internat kamen, war es eine andere Welt. In Kanada war es aber programmatisch, die Kinder loszulösen von ihrer Vergangenheit. Und dann kam die Internatsproblematik dazu, dass die katholischen Schulen vom Glaubenseifer und vom guten Willen getragen waren, aber nicht von professioneller pädagogischer Ausbildung. Da ging es, wie halt leider generell in der Pädagogik des 19. und teils auch 20. Jahrhunderts, um Disziplin, Drill und Strafen.
Was trieb die Schüler/innen in den Tod?
Klieber: Es kamen die zwei Problemfelder zusammen: Dass man die Kinder brutal von ihren Milieus getrennt hat und diese Zuchtpädagogik. Das spielte sicher auch bei den Todesfällen mit, dass sie emotional vertrocknet und an gebrochenem Herzen gestorben sind. Die Eltern haben sich auch gewehrt dagegen, sie haben ihre Kinder nicht freiwillig abgegeben, sondern teilweise noch in der Nähe der Schule gecampt, um ihnen nahe zu sein. Ihre Sprache, ihre Rituale wurden verboten, das war grausam. Es war keine spezifisch katholische Problematik, sondern die Problematik dieser Schulen, wer immer sie betrieben hat. Staatlich hat man diese Schulen nicht üppig ausgestattet, sie mussten jeden Pfennig umdrehen, das war natürlich auch nicht förderlich. Allein schon von der Versorgung her, keine medizinische Betreuung in abgelegenen Gegenden – da kam vieles tragisch zusammen!
Kann man sich die Residential Schools also wie Gefängnisse für die Kinder vorstellen?
Klieber: Ja, die Kinder wurden wie in eine Kaserne einberufen – zunächst mit sieben, später mit sechs Jahren, während bei uns die Internate frühestens mit zehn angefangen haben. Auch hier die bewusste Entscheidung: Man wollte die Kinder möglichst formbar erreichen, um sie auf eine „höhere“ kulturelle Stufe zu bringen. Es ist leider zu selten in der Mission gelungen, einen vermittelnden Weg zu gehen, wo man versuchte, die Eigenheiten der Bevölkerung hineinzunehmen in das Religiöse, auch in die Liturgie. Diese Sensibilität war selten.
Papst Franziskus wurde vom kanadischen Premierminister aufgefordert, sich für die furchtbaren Umstände in den katholischen Residential Schools zu entschuldigen. Warum zögert der Papst?
Klieber: Er wurde gerade erst konfrontiert damit. Man muss auch aufpassen, dass es nicht als Übernahme der gesamten Schuld interpretiert wird. Es war ein Problem der gesamten Gesellschaft. Die Kirchen haben sich für das Ziel des Staates zur Verfügung gestellt. Eine ähnliche Problematik gab es in Irland mit Heimen für „sittlich verwahrloste Mädchen“. Die Schwestern waren überfordert, hatten keine ernstzunehmende pädagogische oder psychologische Ausbildung, sie wurden angelernt, wie man straft. Ob Papst Franziskus sich entschuldigen wird, weiß ich noch nicht, aber ich denke schon.
Wie stehen Sie zu finanzieller Wiedergutmachung?
Klieber: Das wäre ein Abschieben auf die Kirchen. Die gesamte kanadische Gesellschaft, zumindest ihre tonangebenden Kreise – und die waren bei weitem nicht alle katholisch –, haben das so gewollt. Insofern müssen sie insgesamt dafür geradestehen.
Pauschale Entschuldigungen bringen wenig. Sollte man das nicht gründlich erforschen?
Klieber: Man soll zu den Fehlern der Vergangenheit stehen, nur das Kind nicht mit dem Bad ausschütten. Denn kirchliche Schulen haben ganzen Generationen von Jugendlichen Lebenschancen geboten, die sie sonst nicht gehabt hätten.
Dieses Anliegen ist in Kanada nicht geglückt.
Klieber: Ja. Das größte Problem war die massive Entwurzelung. Diese Menschen sind so zwischen den Stühlen gelandet, das ist eine Tragödie. Hätte man ein Volksschulwesen in den Gebieten der Indigenen aufgebaut, dann hätte das vielleicht den Effekt gehabt, den man eigentlich anstreben wollte. Nämlich, die Kinder schrittweise an die Erfordernisse der Moderne heranzuführen, ohne sie völlig zu entwurzeln. Es gab aber auch die mahnenden Stimmen, dass alle Menschen gleichwertig sind! Dem standen kulturelle und wirtschaftliche Interessen gegenüber. Die Botschaft, dass die Menschen gleichwertig sind, hatte die katholische Mission im Grunde immer, aber sie hat es nicht so rübergebracht. Gewusst hätten wir’s, aber wir haben es nicht genug deklariert. Das wurde in vielen Gesellschaften immer wieder zurückgereiht gegenüber anderen Interessen. Gut gemeint ist oft das Gegenteil von gut. «
Die Geschichte der „Indian Residential Schools“ wird in Kanada seit der Gründung der „Truth and Reconciliation Commission“ (TRC) 2008 systematisch erforscht. Insgesamt 150.000 Schüler/innen hatten im 19. und 20. Jahrhundert Kanadas Umerziehungsinternate für indigene Kinder besucht, die meisten von ihnen unfreiwillig. Wie viele als Schulkinder starben, ist Teil der Forschungsarbeiten. Dass am 28. Mai 2021 215 im Garten eines katholischen Internats vergrabene Kinderleichen gefunden wurden, ist kein Zufall, sondern auf die gezielte Forschung zurückzuführen. Seit diesem ersten Fund wurden hunderte weitere Kinder gefunden, die bei ihren Schulen namenlos beerdigt worden waren.
Seit Ende der 1980er-Jahre gab es offizielle Entschuldigungen von Schulorden und am Umerziehungs-System beteiligten Kirchen, 2008 entschuldigte sich das erste Mal ein kanadischer Premierminister, Stephen Harper, für das, was indigene Familien durch die Umerziehungsinternate erleiden mussten. Die TRC nannte die kanadischen Umerziehungsmaßnahmen einen „kulturellen Genozid“. Staat und Kirchen beteiligen sich an einem Versöhnungsprogramm.
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