Wort zum Sonntag
Blitze und Donnerschläge begleiteten die Schlussabstimmung über das Dogma von der päpstlichen Unfehlbarkeit am 18. Juli 1870. Die einen sahen darin die Demonstration göttlicher Zustimmung für das Dogma, die anderen Gottes Zorn dagegen. Zwar war klar, dass sich eine Mehrheit der versammelten Bischöfe dafür aussprechen würde. Dass es aber 533 gegen zwei waren, hatte damit zu tun, dass rund 60 Bischöfe Rom bereits verlassen hatten, um nicht dagegen stimmen zu müssen. Berücksichtigt man diesen Aspekt, ist die Konzilskonstitution Pastor aeternus mit dem genannten Dogma weit entfernt von jenen Mehrheitsverhältnissen, welche die Dokumente des Zweiten Vatikanums erreichten.
Daneben gehen andere Themen des Konzils 1869/70 unter: Gegen den Jurisdiktionsprimat des Papstes, also seiner obersten Befehls- und Rechtsgewalt in der Kirche, gab es viel weniger Einwände. Die andere Konstitution, Dei Filius, ist heute ein Spezialthema für Kirchenhistoriker. Zu mehr kam das Konzil nicht, weil es wegen des ausbrechenden Krieges in Italien und dem Ende des Kirchenstaates in der italienischen Staatseinigung abgebrochen und nicht fortgesetzt wurde. So bleibt es bis heute vor allem das Konzil der päpstlichen Unfehlbarkeit.
Will man erfahren, wie es dazu kommen konnte, muss man die Vorgeschichte betrachten. Dazu gehören die Aufklärung und die Französische Revolution. Gab es hier zunächst auch eine Einbindung von Klerus und Kirche, so kam es doch letztlich zu antikirchlichen Exzessen in Frankreich. Als verzögerte Reaktion folgte die antimoderne Haltung, die vor allem von Papst Gregor XVI. in seiner Enzyklika Mirari vos (gegen Rationalismus, Gewissens- und Meinungsfreiheit) befeuert wurde. Sein Nachfolger Pius IX. erweckte zunächst Hoffnung auf einen gelösteren Umgang mit der modernen Welt. Doch dann kamen die europäischen Revolutionen 1848, Pius IX. musste das revolutionäre Rom für über ein Jahr verlassen. Von da an verfolgte er eine konservative Politik, die in dem berüchtigten Syllabus errorum gipfelte. In diesem „Irrtumsverzeichnis“ findet man unter anderem Gewissens- und Religionsfreiheit, Sozialismus oder Liberalismus gebrandmarkt.
Zur Vorgeschichte des Ersten Vatikanischen Konzils gehören aber auch jene technischen Neuerungen, die vor allem die Verbreitung von Ideen beschleunigten. Manche Kirchenfürsten sahen die Notwendigkeit, schnell auf Entwicklungen reagieren zu können. Also ging es auch in diesem Sinne auf dem Ersten Vatikanischen Konzil darum, wie die Kirche auf die moderne Welt antworten sollte.
War ein Papst, der unfehlbare Entscheidungen treffen sollte, das geeignete Mittel? Auf dem Konzil selbst spalteten die damit verbundenen Fragen die Bischöfe in zwei Gruppen: die eher konservative Majorität (Mehrheit), die für die Unfehlbarkeit war, und die Minorität (Minderheit). Freilich bestanden auch innerhalb dieser Gruppen große Unterschiede. Insgesamt agierte die Minorität erfolgloser und vergab sich so Einfluss auf die Erstellung von Konzilstexten.
Bei der Formulierung des Dogmas von der Unfehlbarkeit des Papstes in Glaubensfragen wurde um jedes Wort gerungen: Es geht um Fälle, wenn der Papst „in höchster Lehrgewalt (ex cathedra) spricht, das heißt: wenn er seines Amtes als Hirt und Lehrer aller Christen waltend in höchster apostolischer Amtsgewalt endgültig entscheidet“. Entschieden wird über „eine Lehre über Glauben oder Sitten“, die „von der ganzen Kirche festzuhalten“ sei. In diesen Fällen besitze der Papst „aufgrund des göttlichen Beistandes, der ihm im heiligen Petrus verheißen ist, jene Unfehlbarkeit, mit der der göttliche Erlöser seine Kirche bei endgültigen Entscheidungen in Glaubens- und Sittenlehren ausgerüstet haben wollte“. Diese endgültigen Entscheidungen sei aus sich und nicht aufgrund der Zustimmung der Kirche unabänderlich.
Das war und ist für Interpretationen offen: Einerseits braucht der Papst zwar keine „Zustimmung“ der Kirche (dieser Passus war überhaupt erst knapp vor Schluss hineinreklamiert worden), andererseits geht es um den Glauben der Kirche – und nicht des Papstes. So ist die Frage nicht eindeutig zu beantworten, wann genau der Papst „unfehlbar“ spricht. Unstrittig war das bei Pius XII., der 1950 die leibliche Aufnahme Mariens in den Himmel zum Dogma erklärte – nachdem er eine Befragung der Bischöfe durchgeführt hatte. Die umstrittene Pillenenzyklika Humanae vitae (1968) von Paul VI. konnten Bischofskonferenzen abmildern, eben weil sie nicht unfehlbar ist. Umstritten ist das Schreiben Ordinatio sacerdotalis (1994) von Johannes Paul II. zur Unmöglichkeit der Priesterweihe für Frauen. Römische Ämter sprechen hier von einer endgültigen Entscheidung – aber konnte sich Johannes Paul II. dabei auf den Glauben der Kirche berufen?
Zu den direkten Folgen des I. Vatikanums gehören die Abspaltung der altkatholischen Kirche und der Kulturkampf gegen die Katholiken in Bismarcks Deutschland. In Österreich kam die Unfehlbarkeit des Papstes den Liberalen zugute: Sie konnten unter Berufung auf die neue Situation das verhasste Konkordat von 1855 für ungültig erklären.
Das I. Vatikanum blieb ein Fragment. Das II. Vatikanische Konzil ergänzte die päpstliche Macht durch bischöfliche Kollegialität, bestätigte aber auch das Vorgängerkonzil. Jedoch ist dieses als Kind seiner Zeit außerhalb seiner historischen Zusammenhänge nicht verständlich. Insofern stellt sich die Frage, ob die Kirche das Erste Vatikanum nicht geschichtlich einordnen und bewerten sollte. Das hieße, das Konzil im Kontext seiner Entstehung zu betrachten und auf die Anwendung einer päpstlichen Unfehlbarkeit angesichts anderer Umstände künftig zu verzichten.
Fotos: Kritiker und Anhänger des Unfehlbarkeitsdogmas: Die Kardinäle Schwarzenberg (Prag) und Rauscher (Wien) waren gegen die Dogmatisierung, ebenso der exponierte Bischof Stroßmayer (Đakovo). In moderater Form dafür waren der St. Pöltner Bischof Feßler, der auch Sekretär des Konzils war, und sein Brixener Amtsbruder Gasser. Trotz zeitweiliger Zweifel stimmte der Linzer Bischof Rudigier für das Dogma.
Buchtipps
Auf zwei neue Bücher zum Ersten Vatikanischen Konzil sei hingewiesen: Um ein gerechtes historisches Urteil bemüht ist die „Kleine Geschichte“ dieses Konzils von Bernward Schmidt. An dem Buch gibt es kaum etwas auszusetzen, nur der Kontext des drohenden italienischen Einmarsches in den Kirchenstaat und Rom kommt etwas zu kurz. Aber das Konzil ist in Inhalt und Ablauf sehr verständlich dargestellt.
Komplexer, aber für heute interessant ist die Analyse von Peter Neuner, der zeigt, wie sich das I. Vatikanum auch heute noch auswirkt, vor allem auch wie es in Teile des II. Vatikanischen Konzils eingeflossen ist. Da das an manchen Stellen nicht offensichtlich ist, ist das Buch eine lohnenswerte Lektüre.
Bernward Schmidt: „Kleine Geschichte des Ersten Vatikanischen Konzils“ Herder Verlag, 376 Seiten, 39,10 Euro.
Peter Neuner: „Der lange Schatten des I. Vatikanums. Wie das Konzil die Kirche heute noch blockiert“, Herder Verlag, 239 Seiten, 28,80 Euro.
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