Wort zum Sonntag
Botschaft zum Internationalen Holocaust-Gedenktag am 27. Jänner 2022 von Bischof Manfred Scheuer
Wie weit ist es? Von Linz nach Hartheim sind es 16 km. Laut Routenplaner braucht man 24 Minuten. Von Linz nach Gusen sind es 26 km. Man kann es in 28 Minuten schaffen. Von Linz zum staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau sind es Luftlinie 404 km, auf der Straße 572 km. Angegeben sind dafür 6 Stunden und 37 Minuten.
Wie weit ist es: Vom Wort, vom Bild, von den Verschwörungsmythen in die Gaskammern? Von der Verachtung zur Ermordung? Von der Musterung zur Liquidierung? Vom Denken, von der Ideologie bis zur Umsetzung in der Tat? Von der Gleichgültigkeit, von der Bürokratie bis zur Auslöschung? Vom Vorurteil bis zur Vernichtung? Wie weit ist es von der Wannseekonferenz am 20.01.1942 bis zur „Endlösung“? Wie weit ist es von der „Lügenpropaganda“, von den „Fake news“ zum Feindbild, zum Sündenbockmechanismus, zu bösem Mobbing und mörderischer Ausgrenzung? Wie weit sind aktuelle Erfahrungen des Antisemitismus, Instrumentalisierungen der Shoah von Auschwitz entfernt? Wie weit ist es von der Relativierung des Holocaust bis zur Wiederholung? – Unerträglich sind Gleichsetzungen der gegenwärtigen Regierungen in Österreich oder in Europa mit der NS-Herrschaft, mit Diktatur. Völlig inakzeptabel, wenn von einer Wiederholung der Geschichte des Nationalsozialismus in der Gegenwart geschrien oder auch geschrieben wird.
Unter der Herrschaft des Nationalsozialismus sind planmäßig Millionen Menschen außerhalb der eigentlichen Aktionen des Krieges vernichtet worden. Das Unternehmen der Ausrottung war getragen von einem ideologischen Programm, „rechtlichen“ Verfügungen und „hoher“ technischer Organisation. Gerade in Auschwitz wird die präzise Logik einer systematischen Vernichtungsmaschinerie deutlich vor Augen geführt. Da zeigt das radikal Böse sein Gesicht, bei „klarem“ Verstand und in genauester Absicht. „Wannsee“ und „Auschwitz“ stehen für die Abgründigkeit und Perversion der Vernunft, für die Dialektik der Aufklärung.
Hannah Arendt spricht im Essay „Ideologie und Terror“ als Spezifikum totaler Herrschaft „die nahtlose Verfugung von Terror und Ideologie“ an, sodass es keinen Raum mehr für Freiheit, Individualität und Empathie geben kann.[2]
Hannah Arendt warnt vor einer juristisch-bürokratischen Fachsprache, weil sie Empathie und Humanität blockiere und verlässlich „die Realität nicht hineinlasse“. Eine idealistisch verstandene Autonomie kennt keine Verantwortung, keine Empathie und auch keine Verwundbarkeit.
Martin Buber sieht in einer Ansprache am 6. April 1952 in Carnegie Hall in New York die Menschenwelt in „zwei Lager aufgespalten, von denen jedes das andere als die leibhafte Falschheit und sich selber als die leibhafte Wahrheit versteht.“ Oft hätten Völkergruppen und Religionsverbände einander so radikal gegenübergestanden, dass die eine Seite die andere in deren innerster Existenz verneinte und verdammte. Er sieht die Entstehung dieses grausamen und grotesken Zustands in den einfachsten Linien, „wie die drei Prinzipien der Französischen Revolution auseinandergebrochen sind. Dort waren die Abstrakta Freiheit und Gleichheit durch die konkretere Brüderlichkeit zusammengehalten, denn nur wenn Menschen sich als Brüder fühlen, können sie einer echten Freiheit voneinander und einer echten Gleichheit miteinander teilhaftig werden.“ Als der Geschwisterlichkeit der Wirklichkeitsgehalt entzogen wurde, „musste jedes der beiden übrigen sich gegen das andere etablieren, um dabei immer weiter von seiner Wahrheit abzukommen und sich immer gründlicher mit fremden Elementen, Elementen der Macht sucht und Besitzgier zu vermischen, gebläht und usurpatorisch.“[3]
Freiheit und Vernunft, so sehr sie auch pervertiert werden mögen, sind von der Wurzel her das Vermögen, das Anderssein von Mitmenschen, der Nahen und der Fernen, der Freunde und der Feinde zu würdigen. Zur Freiheit und Selbstbestimmung gehören aber Verantwortung, Empathie und Mut, zur Vernunft das Wissen um die eigenen Grenzen und auch die Fähigkeit damit zu rechnen, einmal falsch zu liegen.
Es gibt die Versuche, die Einzigartigkeit des Holocaust an den Fakten auszumachen. Freilich, wer die Quantität beschreiben will, gerät unausweichlich in den Zwang der Zahlen. Hartheim, Gusen oder Auschwitz können gezählt werden, die Zahlen können zu anderen gehalten und auf einer Skala eingetragen werden. Auf dieser Ebene ist alles relativ. Es gibt ein sittliches Erkenntnisgebot, sich genau an die Fakten zu halten und sich redlich zu informieren. Ruiniert mir das Zahlenmaterial aber das Entsetzen, erlöst es mich in die Gleichgültigkeit, ebnet es alles ein? Ist auf diesem Weg überhaupt eine Einzigartigkeit zu gewinnen? Es geht im guten Sinn darum, jeden einzelnen „Fall“ zu befreien von der gewaltsamen Abstraktion zur Zahl, nur diesen und nicht auch den anderen sehen zu dürfen. Nur dann haben die einzelnen einen Namen und sind keine Nummer.
Wer bist du? Diese Frage wurde in den KZ nicht mehr gestellt. Es hatte im System keine Bedeutung. So einmalig die Nummern waren – die Auslöschung des Namens wollte zur Auslöschung der Person, wollte zur Auslöschung der Unverwechselbarkeit beitragen. In Auschwitz wurden Millionen von Juden erniedrigt, ermordet, gequält. Durch die Auslöschung ihres Namens zur Nummer sollten sie ihres Menschseins beraubt werden. Wer bist du? Eine Nummer? Einfach zu verwalten und ersetzbar? Jene, die zur Nummer, zum Kalkül, zur Funktion degradiert wurden, sollen beim Namen genannt werden. „Denen will ich in meinem Hause und in meinen Mauern ein Denkmal und einen Namen (Yad Vashem) geben.“ (Jes 56,5).[4]
Fassungslos blicken wir heute auf die Ereignisse in der Zeit des Nationalsozialismus zurück. Wie konnte es dazu kommen und was waren die Auslöser? Warum haben so wenige Menschen sich zur Wehr gesetzt, als ihre jüdischen Nachbarn verfolgt und verschleppt wurden? Als christliche Kirchen warnen wir vor wachsendem Hass bzw. Antisemitismus und prangern wir die steigende Tendenz an, die Ereignisse des Holocaust zu verharmlosen oder gar zu leugnen. Verachtung und Hass entwickeln sich allmählich aus Worten, Stereotypen und Vorurteilen – durch rechtliche Ausgrenzung, Entmenschlichung und Gewalteskalation. An diesem Tag des Gedenkens bringen wir für die Opfer dieses schrecklichsten Verbrechens Respekt und Trauer zum Ausdruck. „Mit Trauer, aber auch mit Scham erinnern wir uns in diesen Tagen an die dunklen Schatten, die die Shoa über Europa, nicht zuletzt über unsere Heimat Österreich geworfen hat.“ (Kardinal Schönborn)
Der Einsatz gegen Antisemitismus beinhaltet für die Kirchen zudem die bleibende Verantwortung, dass wir uns mit dem eigenen Versagen in der Vergangenheit auseinandersetzen und gegen das Vergessen wirken. Eine Begegnung von Christen mit Juden ist nicht ohne Scham und Reue, ist nicht ohne Umkehr und Buße möglich. Christinnen und Christen sind heute dankbar für das Glaubenszeugnis Israels und für die religiöse Praxis von Jüdinnen und Juden. Jüdinnen und Juden sollen wissen, dass sie in der katholischen Kirche und in den Christen verlässliche Partner haben im Kampf gegen den Antisemitismus. Papst Franziskus ruft es immer wieder in Erinnerung: „Es ist unmöglich, Christ zu sein und gleichzeitig Antisemit.“
[zum Titel] Entfernung. Österreich und Auschwitz. Eröffnung der neuen österreichischen Länderausstellung im Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau, hg. Parlamentsdirektion, Wien September 2021.
[2] Hannah Arendt, in: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt a. M. 1955.
[3] Martin Buber, Hoffnung für diese Stunde. Ansprache vom 6. April 1952 in Carnegie Hall in New York, zitiert nach: Dominique Bourel, Martin Buber. Was es heißt, ein Mensch zu sein. Biografie, Gütersloh 2017, 600f. vgl. auch 665.
[4] Vgl. dazu Christoph Münz, Der Welt ein Gedächtnis geben. Geschichtstheologisches Denken im Judentum nach Auschwitz, Gütersloh 1995.
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