Wort zum Sonntag
Es waren einmal – und das ist gar nicht lange her – zwei Kinder mit Namen Florian und Anna, die lebten in einem Hochhaus am Rande der Stadt. Dort war es nicht besonders gemütlich: Unten im Hof war nur wenig Platz zum Spielen und die Leute konnten sich furchtbar darüber aufregen, wenn die Kinder beim Herumtollen ein bisschen lauter waren.
Einmal schüttete ein Mann vom zweiten Stock sogar einen Kübel kalten Wassers in den Hof hinunter, nur um seine Ruhe zu haben – brrr, das war vielleicht eine unfreundliche Dusche, wie man sich vorstellen kann.
Und in der Wohnung gleich gegenüber wohnte eine Familie, mit der war es ganz schlimm: Der Mann war alkoholkrank, und wenn er zu viel getrunken hatte, brüllte er so laut, dass man es im ganzen Haus hören konnte. Einmal hatte der Mann sogar seine Frau geschlagen, sodass sie weinend um Hilfe gelaufen war und die Polizei den Mann abholen musste.
In der Nähe des Hochhauses trieben Jugendbanden ihr Unwesen und zerstörten eine Kinderrutsche und beschmierten Häuserwände, und einer alten Frau vom Erdgeschoss hatten sie vor kurzem sogar einen vollen Einkaufskorb aus der Hand gerissen. Und im Fernsehen sah man fast jeden Tag Bilder von Menschen, die flüchten mussten, weil in ihrer Heimat Krieg geführt wurde. Nein, es war keine friedliche Zeit, es war kein friedliches Haus, in dem Anna und Florian lebten.
Warum kann es keinen Frieden geben, seufzte Anna, und Florian machte den Vorschlag, sie könnten doch die Trafikantin unten an der Ecke fragen. Die Trafikantin war nämlich sehr gescheit. Sie las den ganzen Tag in Zeitschriften und wusste alles, was auf der Welt so vor sich ging. Frau Trafikantin, kannst du uns sagen, warum es bei uns so wenig Frieden gibt, fragte Florian. Das kann ich euch schon sagen, sagte die Trafikantin und sah die Kinder lächelnd an. Gerade neulich habe ich es in einer Zeitung gelesen: Es muss da einen Stern geben, einen Friedensstern, und die Menschen, die diesen Stern sehen, die werden glücklich und zufrieden. Aber leider weiß niemand mehr, wo dieser Friedensstern zu sehen ist, sagte die Trafikantin. Und dann schwieg sie, denn sie las gerade ein spannendes Horoskop.
Doch mit dieser Antwort konnten sich Anna und Florian nicht zufriedengeben, und sie schmiedeten einen Plan: Wir wollen den Friedensstern suchen gehen, sagte Anna, es wäre doch gelacht, wenn wir diesen Stern nicht finden könnten, sagte Florian. Und sie machten sich auf den Weg.
Der Erste, den sie besuchten, war ein Astrologe. Er wohnte in einem hohen Turm und war den ganzen Tag damit beschäftigt, die Bahnen der Himmelskörper auszurechnen und in der Nacht mit seinem Fernrohr die Sterne zu beobachten. Herr Astrologe, kannst du uns sagen, wo wir den Friedensstern finden können? Der Astrologe runzelte die Stirn. Mhm, murmelte er und blätterte in seinen vielen Unterlagen, unter denen er fast verschwand. Mhm, murmelte er noch einmal und klappte ein dickes, altes Buch auf, aus dem der Staub nur so herausrieselte. Ein Friedensstern, ein Friedensstern, brummelte er in seinen nicht vorhandenen Bart, also Kinder: Ich weiß alles über die Sterne am Himmel, aber von einem Friedensstern habe ich noch nie gehört, da müsst ihr euch getäuscht haben. Da kann ich euch nicht helfen. Und er versank wieder in seinem Meer aus Büchern, Zetteln und Berechnungen.
Und Anna und Florian machten sich weiter auf die Suche nach dem Friedensstern. So kamen sie schließlich zu einem Haus aus Glas, das in allen möglichen Farben beleuchtet war, sodass es schon weithin zu sehen war. Es war das Haus eines Experten für digitale Welten, E-Business, Roboter und Social Media. Tja, Kinderchen, womit kann ich euch denn dienen, fragte der Digitalexperte. Er hatte einen glitzernden Anzug an und lachte viel. Sein Lachen klang ein wenig wie das Meckern einer Ziege. Ich kann euch alles zeigen, sagte der Experte, es gibt nichts, was mich überraschen könnte. Kannst du uns dann sagen, wo wir den Friedensstern finden können, fragten Anna und Florian gleichzeitig. Für einen Moment verschlug es dem Experten die Sprache. Was sucht ihr?, fragte er und meckerte ganz leise. Sein Meckern klang jetzt unsicher.
Den Friedensstern? Doch schon hatte er sich wieder gefasst. Ach was, Friedensstern, sagte der Experte, das ist doch Unsinn, schaut her, was ich euch zu bieten habe, und er zeigte Anna und Florian Links zu Internetspielen: Fortnite, Horror im Andromedarnebel, Die letzte Schlacht am Pluto und andere Ego-Shooter-Games. Da fliegen die Fetzen, da wird bis zum letzten Blutstropfen gekämpft, das ist explosive Ware, sagte der Experte und meckerte. Nein, wir suchen den Friedensstern, sagten Florian und Anna und waren schon wieder draußen bei der Tür, obwohl der Experte noch viele seiner Wunderdinge anpries. Noch lange hörten sie sein Lachen hinter sich.
Auf der Suche nach dem Friedensstern kamen Florian und Anna schließlich zu einer Wiese vor der Stadt. Dort hütete ein junger Hirte eine Schafherde, den fragten sie nach dem Stern. Nein, nie gesehen und gehört, sagte der, aber wenn ich euch einen Rat geben kann, fragt doch den alten Hirten drinnen in der Hütte. Er ist schon uralt, vielleicht kann euch er etwas erzählen. So kamen Florian und Anna zu dem alten Hirten. Der war nun wirklich schon steinalt, hatte langes, weißes Haar und seine Augen waren im Laufe der Jahre blind geworden.
Als der alte Hirte hörte, was die Kinder suchten, wurde er aufgeregt und richtete seinen Kopf auf: Ja, ich weiß, was ihr sucht, sagte er. Es ist lange her, eine Ewigkeit, ich war noch ein ganz junger Bub, vielleicht ist es schon zweitausend Jahre her, da lagerte ich mit anderen Hirten auf einer Wiese in einem fremden Land, weit weg von hier. Da habe ich einen Stern gesehen, von dem die Rede ging, dass es der Friedensstern sei. Es hieß, der Stern leuchte für einen jungen König, der irgendwo in der Nähe in einer Krippe geboren worden sei. Ich erinnere mich, sagte der alte Hirte, die anderen Hirten haben sich damals aufgemacht und die Krippe gesucht. Ich aber, als Jüngster, musste bei der Herde bleiben. Als die Hirten damals vom Besuch der Krippe zurückkamen, waren sie ganz anders, wie verwandelt. Wir haben etwas Großes gesehen, haben sie gesagt und ihre Augen haben geglänzt. Aber das ist lange her, und wo dieser Stern heute zu finden ist, kann ich euch beim besten Willen nicht sagen, seufzte der alte Hirte und schwieg.
Weil Florian und Anna den Friedensstern noch immer nicht gefunden hatten, waren sie ganz traurig geworden. Und weil es allmählich dunkel wurde und sie vom vielen Laufen schon sehr müde waren, beschlossen sie, nach Hause zu gehen. Und da auf ihrem Heimweg auch das Haus ihrer Großmutter lag, wollten sie noch schnell bei ihr vorbeischauen.
Na, was ist denn mit euch beiden los, lachte die Großmutter, als sie die zwei Erschöpften bei der Eingangstür begrüßte. Bei warmem Tee und Keksen erzählten ihr die Kinder, wonach sie den ganzen Tag vergeblich gesucht hatten. Oder kannst du uns sagen, wo wir den Friedensstern finden können, fragte Anna schließlich. Ja, ich habe von diesem Stern gehört, sagte die Großmutter nach einigem Nachdenken, und ich weiß auch, wie man ihn sehen kann.
Es ist eine alte Geschichte, sagte die Großmutter, die mir meine Mutter erzählt hat, und die wiederum hat sie von ihrer Mutter gehört, die sie wiederum von ihrer Mutter gehört hat und immer so weiter, und beinahe hätte ich die Geschichte schon vergessen gehabt, doch hört zu: Den Friedensstern gibt es, sagte die Großmutter, und du kannst ihn auch sehen, aber nur, wenn du eine Bedingung erfüllst: Wenn du einem Menschen etwas Gutes tust und ihm dann in die Augen blickst, dann kannst du den Friedensstern sehen.
Glücklich gehen Florian und Anna nach Hause. Endlich wissen wir, was wir tun müssen, um den Friedensstern zu sehen, sagt Anna zu Florian. Gleich morgen will ich damit beginnen.
Der Autor Rudolf Habringer lebt in Walding (OÖ). Er schreibt Romane, Erzählungen, Essays, Theaterstücke und Kabarett-Texte. Seine bekanntesten Werke sind der Erzählband „Alles wird gut“ (2007) und der Roman „Island-Passion“ (2008). 2021 erschien sein jüngster Roman „Leirichs Zögern“.
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Birgit Kubik, 268. Turmeremitin, berichtet von ihren Erfahrungen in der Türmerstube im Mariendom Linz. >>
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