Wort zum Sonntag
Als Papa nicht hinsah, schnappte sich Sophia ihren Rucksack, stopfte ihre Eislaufschuhe hinein und schlich aus der Wohnung. Sie hüpfte die Treppen hinunter und verließ das Gebäude, in dem sie mit ihrem Vater wohnte, durch die Vordertür.
Auf dem Weg zur Bushaltestelle kletterte sie über einen kleinen Schneehaufen, den der Schneepflug auf den Gehsteig geschoben hatte. Beinahe rutschte sie dabei aus, fing sich jedoch in letzter Sekunde wieder. Als sie die Bushaltestelle erreichte, fuhr der Bus gerade ein. Sie zeigte ihren Schülerinnenausweis und setzte sich ganz nach hinten, wo noch viele Plätze frei waren.
Während der Fahrt schaute Sophia aus dem Fenster und beobachtete die dicken Schneeflocken, die vom Himmel fielen. Weiße Weihnachten, dachte sie. Das hat Mama immer gefallen. Sobald der erste Schnee lag, sind Mama und sie rausgegangen und haben einen Schneemann gebaut, der eine große Karotte als Nase bekam und einen alten Topf als Hut. Das werden sie nun nie wieder tun können.
Sophia rannen bei dem Gedanken die Tränen übers Gesicht. Sie ließ es geschehen und wischte sie nicht weg. Traurig zu sein ist nichts, was man verstecken muss, hatte der Pfarrer nach dem Begräbnis zu ihr gesagt.
„Nächster Halt: Sternenstraße“ erklang die automatische Ansage im Bus. Sophia sprang auf und drückte schnell den Halteknopf. Fast hätte sie ihre Haltestelle verpasst. Nachdem sie ausgestiegen war, schaute sie sich nach rechts und links um. Wo war die Eislaufhalle nochmal? Ach ja, diese Richtung, fiel es ihr wieder ein und sie ging los.
Wäre Mama noch da, würde sie Sophia jetzt an die Hand nehmen und ihr sagen, dass sie nachher nicht zu schnell fahren dürfe, sonst könne sie hinfallen und sich verletzen. Sophia würde brav nicken und sich wie jedes Jahr nicht daran halten. Es machte einfach zu viel Spaß, im Zickzackkurs über die Eisfläche zu flitzen und in letzter Sekunde den anderen Eisläufer:innen auszuweichen.
„Wenn das das Christkind sieht, dass du nicht auf mich hörst“, hatte ihre Mama sie jedes Mal zum Langsamfahren zu bewegen versucht. „Fliegt es dann vorbei und bringt mir keine Geschenke?“, hatte Sophia gefragt, war stehen geblieben und hatte besorgt zum sternenübersäten Himmel hinaufgeschaut.
Mama hatte sich neben sie hingehockt und gesagt: „Wenn wir hier zusammen sind, zuhause mit Papa oder draußen in der Welt, ist das Christkind immer bei uns. Nicht nur zu Weihnachten.“ Das hatte Sophia beruhigt und sie drehte an der Seite ihrer Mutter weiter ihre Runden auf dem großen Eislaufplatz, wenn auch eine Spur langsamer – man weiß ja nie. Diese Tradition wiederholten sie jedes Jahr am 24. Dezember. Wenn sie nach Hause kamen, wartete Papa bereits mit einer heißen Würstelsuppe auf sie und Sophia musste nach dem Essen nur noch „ganz kurz“ warten, bis endlich das Christkind kam.
Dieses Bild hatte Sophia vor Augen, als sie den Eingang zur Eishalle erreichte und sich an der Kassa anstellte. „Drei Euro“, sagte die Kassiererin ohne jeden Gruß. „Oh“, machte Sophia. Dass sie Geld für den Eintritt brauchte, daran hatte sie überhaupt nicht gedacht. „Kann ich nicht hineingehen? Ich war schon oft mit meiner Mama hier, sie wartet drin auf mich“, versuchte sie die Frau zu überreden. Diese verdrehte nur die Augen und schnauzte: „Dann soll sie herkommen und die drei Euro mitbringen, oder du hast Pech gehabt.“
Sophia stand da und wusste nicht, was sie tun sollte. Obwohl sie ihren warmen Skianzug anhatte, kroch ihr plötzlich die Kälte des Winterabends unter die Haut und sie fröstelte. Sie zog sich die Haube tiefer ins Gesicht und rieb die Hände aneinander. War sie so weit gekommen, nur um so kurz vor dem Ziel zu scheitern? Verstand diese Frau nicht, dass Sophia unbedingt dort hinein musste, genauso wie jedes Jahr? „Was ist jetzt? Hinter dir warten noch andere“, herrschte die Kassiererin sie an und versuchte, sie mit einer unwirschen Handbewegung zu verscheuchen.
„Um Gottes Willen, seien Sie doch kein Unmensch. Ich übernehme das“, meldete sich eine unbekannte Stimme hinter Sophia. Erschrocken wandte sie sich um und sah einen Mann mit zwei kleinen Kindern im Schlepptau. Der Vater trat vor und streckte der Kassadame ein paar Euroscheine hin. Sophia vergaß vor lauter Überraschung, sich zu bedanken.
Die Familie begleitete Sophia hinein und alle begannen, ihre Schlittschuhe anzuziehen. Die anderen zwei Kinder plagten sich sehr mit den langen Schnürsenkeln, Sophia selbst brauchte nur eine Minute. Das machte sie ein bisschen stolz und sie musste lächeln. Der Vater eilte den beiden zu Hilfe, dabei fiel sein Blick auf den Adressanhänger von Sophias Rucksack, der neben ihnen auf der Bank lag.
„Du heißt also Sophia“, sagte er. Sofort riss sie den Rucksack an sich und rückte ein Stück von den dreien weg. Ihr fiel ein, dass Mama und Papa immer gesagt hatten, mit Fremden dürfe man nicht reden. Sie schaute zur Tür hinter dem Mann, die zur Eisfläche führte und überlegte, wie sie am schnellsten an ihm vorbeikam. Er schien ihre Beunruhigung zu spüren, denn er sagte: „Hab keine Angst. Ich heiße Tobias. Und das hier sind Mia und Max.“
Sophia lockerte den eisernen Griff um den Rucksack ein wenig, ließ Tobias aber nicht aus den Augen. „Wartet deine Mama wirklich drinnen auf dich?“, fragte er. Im Religionsunterricht hatte Sophia gelernt, dass eines der Zehn Gebote lautete: Du sollst nicht lügen. Mama hat immer gesagt, im absoluten Notfall ist Lügen okay. „Ja“, sagte sie schnell, sprang auf und rannte, was das Zeug hielt. Endlich war sie auf dem Eis!
Stefan, Sophias Vater, hatte ihr Verschwinden längst bemerkt und suchte sie verzweifelt. Nirgends in der Wohnung war seine Tochter zu finden, noch dazu war ihr Rucksack weg. Wo konnte sie hingegangen sein? Wenn sie ihn jetzt auch noch allein ließ, würde er komplett den Verstand verlieren. Nein, ermahnte er sich: seine Frau Christina hatte ihn nicht allein gelassen, es war nicht ihre Entscheidung gewesen.
Trotzdem tat es weh, und nun kam noch das schlechte Gewissen dazu, weil er Christina eigentlich geschworen hatte, gut auf ihre gemeinsame Tochter aufzupassen. Stefan nahm sein Handy vom Küchentisch und wollte schon die Nummer der Polizei wählen, als sein Blick auf ein Foto fiel, das gegenüber an der Wand hing. Es war ein Bild von ihnen dreien, letztes Jahr zu Weihnachten. Stefan hatte von Christina und Sophia Eislaufschuhe geschenkt bekommen, die er bemüht lächelnd in die Kamera hielt. Das Bild sollte die Erinnerung an sein Versprechen sein, dass er nächstes Jahr – also heuer – mit den beiden zusammen Eislaufen gehen würde. Nur wenige Monate nach der Aufnahme geschah der Unfall.
Stefan nahm das Foto von der Wand. Er hatte das Versprechen nie wirklich ernst genommen, war kein Freund von Wintersport oder der kalten Jahreszeit im Allgemeinen. Vor dem Gedränge auf Adventmärkten und kitschiger Weihnachtsmusik grauste ihm. Manchmal hatte ihn Christina deshalb liebevoll als „Grinch“ bezeichnet.
Doch als er jetzt das Foto betrachtete, wusste er sofort, was er zu tun hatte. Er legte es auf den Tisch, holte sich eine Klappleiter und ging ins Schlafzimmer. Er stellte die Leiter vor den Kleiderschrank und stieg hinauf. Von ganz hinten zog er eine verstaubte Schachtel hervor. Er öffnete sie und darin lagen, noch völlig unberührt, seine Schlittschuhe.
Wort zum Sonntag
Birgit Kubik, 268. Turmeremitin, berichtet von ihren Erfahrungen in der Türmerstube im Mariendom Linz. >>
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