Wort zum Sonntag
Jesus war ein begnadeter Erzähler. Das wird auch in den Gleichnissen im Matthäusevangelium deutlich: Sie bringen mit ihren oft überraschenden und irritierenden Wendungen Bewegung in festgefahrene Denkmuster.
So stellt das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,1–15) herkömmliche Vorstellungen von „gerecht“ und „ungerecht“ infrage. Geschickt baut Jesus bei seinen Zuhörer:innen zunächst eine bestimmte Erwartungshaltung auf: Die immer neue Einstellung von Arbeitern zu unterschiedlichen Zeiten des Tages und die Zusage des Gutsherrn „Ich werde euch geben, was recht ist“ (Mt 20,4) weckt die Annahme, dass die zuerst Eingestellten einen proportional höheren Lohn erhalten werden als die Letzten.
Schließlich entspricht eine leistungsorientierte Entlohnung nach dem Motto „jedem das Seine“ einer gängigen Vorstellung von Gerechtigkeit. Diese Erwartung wird jedoch durchbrochen: Der Gutsherr zahlt am Ende des Tages allen Arbeitern den gleichen Lohn aus – zum begreiflichen Unmut derer, die den ganzen Tag über gearbeitet haben. Ist das gerecht?
Das Gleichnis illustriert damit ein matthäisches Kernthema, das gerade auch in der Bergpredigt entfaltet wird: der spannungsvolle Zusammenhang von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit Gottes.
Zorngericht und Liebe, Strafe und Vergebung, die Gerechtigkeit Gottes und seine alles menschliche Maß übersteigende Barmherzigkeit gehen schon im Alten Testament immer wieder Hand in Hand. Was vordergründig vielleicht widersprüchlich erscheint, ist doch aufs Engste miteinander verbunden.
So vereint das hebräische Wort chaesaed (= Gnade, Güte, Huld) nicht nur die liebende Zuwendung Gottes, sondern auch sein gerechtes, nämlich bundestreues Verhalten. Gerechtigkeit ist nicht auf gesetzeskonformes Handeln beschränkt, sondern vielmehr ein Beziehungsbegriff, der solidarisches Füreinander einschließt.
Diese Art von Gerechtigkeit ist es, die in der Bergpredigt zu einem wesentlichen Maßstab menschlichen Verhaltens erhoben wird: „Wenn nicht eure Gerechtigkeit überfließt, mehr als die der Pharisäer und Schriftgelehrten, werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen“ (Mt 5,20). Was Jesus hier von allen verlangt, die an der Aufrichtung des Himmelreichs mitwirken wollen, ist keine auf Leistung und Gegenleistung basierende, kalte Gerechtigkeit, in der jede:r bloß das bekäme, was sie oder er „verdient“.
Die „überfließende“ Gerechtigkeit ist korrigiert bzw. ergänzt um den Aspekt der Solidarität und Barmherzigkeit. Sie erschöpft sich nicht in einer Haltung, sondern wird im Handeln konkret. Weil sie Maß nimmt an der bedingungslos geschenkten und stets versöhnungsbereiten Barmherzigkeit Gottes, lässt die „überfließende“ Gerechtigkeit auch denen das Gleiche zukommen, die erst später zur Arbeit im Weinberg eingesetzt werden: nicht bloß das „verdiente“, sondern das volle Heil.
Heuer ist das Matthäusevangelium in den Sonntagsgottesdiensten besonders präsent.
Wort zum Sonntag
Birgit Kubik, 268. Turmeremitin, berichtet von ihren Erfahrungen in der Türmerstube im Mariendom Linz. >>
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