Erstaunlich! Das ist das Wort, das mir beim Lesen von „Evangelii gaudium“ zuerst in den Sinn kam. Und auch nach einer kurzen Nachdenkpause bleibt es dabei: Erstaunlich!
Ausgabe: 2013/49, Evangelii gaudium, Guggenberger
04.12.2013
- Wilhelm Guggenberger
Manches, was in dem Rundschreiben steht, hat man von diesem Papst schon gehört oder gelesen. Vieles aber, vor allem der Gesamtduktus, der angeschlagene Ton ist anders, als man das bislang von römischen Lehrschreiben gewohnt war; erfrischend anders.
Keine Zollstation
Einen Neuaufbruch fordert Papst Franziskus; aber keineswegs einen Kreuzzug. Die dunklen Seiten, die Probleme und Gefahren unserer Zeit werden klar benannt, das Entscheidende bleibt aber doch die Freude – an der Schönheit der Liebe Gottes, an der Schönheit der Botschaft, an der Vielfalt der Menschen und ihrer Fähigkeiten, an der Welt in der wir leben dürfen. Die positive, erlöste Grundhaltung des Papstes scheint ihm eine unglaubliche Weite zu eröffnen, so dass er wiederholt sagen kann: wir müssen wagemutig sein, auch im Umgang mit unseren kirchlichen Traditionen. Es ist befreiend zu lesen: „Häufig verhalten wir uns wie Kontrolleure der Gnade und nicht wie ihre Förderer. Doch die Kirche ist keine Zollstation, sie ist das Vaterhaus, wo Platz ist für jeden mit seinem mühevollen Leben.“
Der Kämpfer
Erstaunlich und erfrischend ist dieser Text, nicht aber harmlos. Das wird dort spürbar, wo es um „die unausweichliche soziale Dimension der Verkündigung des Evangeliums“ geht. Da spürt man, es könnte durchaus unbequem werden mit diesem Papst. Ein massives Zeichen unserer Zeit ist für ihn die Spaltung zwischen Arm und Reich. Wenn es um diese ausgestoßenen Armen geht, spricht nicht mehr der liebe, sanfte Franziskus zu uns, sondern ein prophetischer Kämpfer für die Würde aller Menschen. Gerade diese Passagen des Textes beunruhigen, zumindest mich, der ich satt im warmen Zimmer das Apostolische Schreiben lese und mir die Frage gefallen lassen muss, welchen Beitrag ich zum tödlichen Bösen leiste, das in den ungerechten Gesellschaftsstrukturen kristallisiert ist (s. Zitate).
Welt verändern
Uns Christen fehlt heute vielfach die Begeisterung, meint der Papst, es fehlt uns auch der Eifer für die Umgestaltung ungerechter Strukturen, so dass wir „lieber Generäle von geschlagenen Heeren sein wollen als einfache Soldaten einer Schwadron, die weiterkämpft“. Wir müssten uns aber dessen bewusst sein, dass die Option für die Armen eine theologische Kategorie ist, das heißt: „Ein authentischer Glaube – der niemals bequem und individualistisch ist – schließt immer den tiefen Wunsch ein, die Welt zu verändern, Werte zu übermitteln, nach unserer Erdenwanderung etwas Besseres zu hinterlassen.“ Aus solchen Formulierungen spricht eindeutig das Grundanliegen einer Befreiungstheologie, die nun offenbar in Rom angekommen ist; in der Gestalt eines Papstes, der sich nicht nur der Sorge um die irrtumsfreie Lehre widmen möchte, sondern vor allem der Stärkung einer Kirche, die mit ihrer Lebenspraxis Zeugnis gibt.
Nur Worte?
Das alles ist in der Sache nach nicht neu. Franziskus zitiert immer wieder aus Texten seiner Vorgänger. Und doch hat man den Eindruck, dass nun tatsächlich ein Neuaufbruch gelingen könnte, wird nicht die Befürchtung des Papstes wahr, „dass auch diese Worte nur Gegenstand von Kommentaren ohne praktische Auswirkungen sein werden“.
Erbarmungslos: der neue Götze „Geld“
Ein wesentlicher Grund für die Gleichgültigkeit gegenüber dem Schrei der Armen „liegt in unserer Beziehung zum Geld“, sagt Papst Franziskus: „Wir akzeptieren seine Vorherrschaft über uns und unsere Gesellschaften.“ Wir übersehen, „dass am Ursprung der Finanzkrise eine tiefe anthropologische Krise steht: die Leugnung des Vorrangs des Menschen! Wir haben neue Götzen geschaffen. Die Anbetung des Goldenen Kalbs hat eine neue und erbarmungslose Form gefunden im Fetischismus des Geldes, in der Diktatur einer Wirt-schaft ohne Gesicht und ohne ein wirklich menschliches Ziel.“ Die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich gehe auf jene Ideologien zurück, „die die absolute Autonomie der Märkte und die Finanzspekulationen verteidigen und das Kontrollrecht der Staaten bestreiten“. (EG 55f)
Der Papst will eine Kirche, die aufbricht