Wenn Ordensschwester Maris Stella hilft, greift sie dafür zu Kamm und Schere. Ihre Kundschaften, das sind Obdachlose, Menschen in Geldkrisen, Haftentlassene, überhaupt Leute, die Hilfe brauchen. Jeden Donnerstag Nachmittag schneidet sie ihnen die Haare.
Ausgabe: 2013/51/52, Sr. Maria Stella, Vinzenzstüberl, Frisör
17.12.2013
- Matthäus Fellinger
Ich war jetzt eine Zeit lang nicht da“, sagt Egon Muezell. Seinen Haaren sieht man es an: Es ist hoch an der Zeit für einen Friseurbesuch. Gut gelaunt nimmt er Platz auf dem Stuhl. „Die Klosterschwester schneidet am besten“, ist er überzeugt. Er meint Sr. Maris Stella Mühlparzer von den Barmherzigen Schwestern in Linz. Im Keller des Vinzenzstüberls hat sie ihr „Studio“ neben den Waschmaschinen, in denen Obdachlose und Menschen, die in Notlagen sind, für wenig Geld ihre Wäsche waschen können. 27 Millimeter, sagt Egon, möge die Schwester stehen lassen, und schon surrt die Haarschneidemaschine. Unter den geübten Griffen der Schwester sammelt sich sein Haar auf dem Boden. Dass ihm bei dieser beträchtlichen Kürzung seines natürlichen Kälteschutzes kalt um den Hals werden könnte, fürchtet er nicht. „Kälte bin ich gewohnt“, sagt er. 15 Jahre war er in Kitzbühel im Gastgewerbe. Das war seine gute Zeit. Dann war etwas. „Ich war 27 Monate eingesperrt“, gesteht er freimütig. Und seither hat er nicht mehr so recht Fuß fassen können. Am Bau halt immer wieder, ansonsten stempeln. Seine Frau verdient ein wenig – als Zeitungsausträgerin. Mehr schlecht als recht kommen sie über die Runden. Ohne Einrichtungen wie das Vinzenzstüberl, die Wärmestube und Notschlafstelle der Caritas, oder das Of(f)n-Stüberl des Diakoniewerkes hätten es Leute wie er sehr schwer. Der Nächste an der Reihe will seinen Namen nicht in der Zeitung stehen haben. Sein Bart ist etwas länger geworden, denn vorige Woche war die Schwester nicht da. Da hatte sie eine Augenoperation. Aber heute geht es wieder flott dahin. Zum haarigen Berg am Boden gesellen sich die Barthaare der neuen Kundschaft. Die Reihe vor der Tür wird nicht kürzer. Es sind Männer. Frauen kommen seltener. „Super ist es hier“, sagt einer der Herren. Und das Essen sei hier bei den Schwestern besonders gut. Für 50 Cent bekommen die Gäste eine Mahlzeit. Mit seinen Fingern formt er das Kompliment: „Wirklich fein.“ Duschen gibt es hier, und alles ist so sauber – und dass es einen Raucher- und Nichtraucherbereich gibt, ist auch gut, meint eine Frau, die zum Essen hergekommen ist.
Arme Leut‘ gibt es in Linz genug
31 Jahre war Schwester Maris Stella Kinderdorfmutter in St. Isidor. 2001 zog der Orden die Schwestern dort ab. „Ich war immer bei den Kindern und konnte mir nichts anderes vorstellen“, erzählt sie. Als sie von der Oberin gefragt wurde, was sie nun gerne machen würde, folgte sie dem, was sie in ihrem Herzen von klein auf empfand: „Dann gehe ich halt in der Linzer Stadt zu den Armen, von denen gibt es hier genug.“ Sprach's, und tat es. Und so kümmert sie sich vor allem um Patienten und Patientinnen, die Hilfe brauchen, wenn sie aus dem Krankenhaus entlassen werden. Ein halbes Jahr lang hat sie zum Beispiel eine krebskranke Mutter, die Zwillinge hatte, unterstützt – bis diese starb und die Kinder in eine Pflegefamilie kamen. Heute Vormittag war Sr. Maris bei einer eben entlassenen Patientin. Staubsaugen, Wäsche waschen, die Tasche ausräumen. Es gibt so viele, die niemanden haben. „Acht Millimeter“, wünscht der Nächste, der an die Reihe kommt. Schönes, grau meliertes Haar fällt zu Boden. Ein stiller Gast ist er, redet wenig. „Hinten herum gerade oder auslaufen lassen?“, fragt Sr. Maris Stella. „Wie's kommt!“, sagt er nur. Aber die Schwester weiß schon, wie er es meint. Und die Augenbrauen? „Ja, ein wenig.“ „Danke schön“, sagt er, als er sich aus dem Stuhl emporhievt. Das ist der Lohn für die Schwester. Bezahlt wird hier nicht.
Die Kundschaften werden mehr
„Das hätte ich mein Lebtag nicht gedacht, dass mir eine Klosterschwester einmal die Haare schneidet“, hat Sr. Maris Stella von ihren Kunden schon öfter gehört. Manche wären schon ein wenig scheu einer Ordensfrau gegenüber. Zehn, zwölf Leute kommen pro Nachmittag. Aber es werden mehr. Die Mundpropaganda wirkt – dass hier eine Schwester ist, der man nicht gleich sein halbes Vermögen für einen Haarschnitt opfern muss. „Ein Kollege hat mir das hier empfohlen“, sagt auch der Herr, der eben die Kellerstiege heruntergekommen ist – zum ersten Mal. Einer, dem man die Armut nicht ansieht. Früher war er in der Voest beschäftigt. Dann: die Scheidung. Die Fixkosten fressen sein ganzes Geld.
Sozialarbeit ist auch schwierig
Von oben kommt jetzt die „Chefin“ des Vinzenzstüberls herab: Sr. Tarcisia Valtingoier. Sie nimmt Besen und Schaufel, kehrt die Haare auf. Ja, es kommen immer mehr Leute in das Vinzenzstüberl, besonders jetzt, wenn es kalt wird. 130 jeden Tag. Ein paar Mal sind es schon 160 gewesen. Da wird es schwierig. Und wie in der Wärmestube der Caritas gibt es auch hier manchmal Probleme – wenn das Stüberl gestürmt wird von organisierten Gruppen, die einfach abräumen wollen, was zu kriegen ist. Da bleibt für diejenigen, die wirklich die Hilfe brauchen, nichts mehr, sagt Sr. Tarcisia. Deshalb wird auch ein Ausweis verlangt. Sozialarbeit ist nicht immer einfach. Die Gäste hier werden zunehmend jünger. Also musste sich auch Sr. Maris Stella auf den Trend einstellen: Den Irokesenschnitt mit dem aufrechten Haar-Kamm beherrscht sie inzwischen perfekt. Für Bedürftige hat Sr. Maris Stella schon immer ein Herz gehabt – und dafür auch Grenzen überschritten. „Mich erbarmen die armen Leut‘“, sagt sie, und das liege ihr im Blut. Sie erzählt, wie in die Schuhmacherwerkstatt des Vaters in Rohrbach einmal ein sehr armer Mensch gekommen ist. Heimlich hat sie ihm einen von der Mutter frisch gebackenen Krapfen nachgebracht. „Aber meine Mutter hatte ihm schon welche mitgegeben“, stellte sie fest. Da dürfte der Apfel nicht weit vom Stamm gefallen sein. „Der Nächste bitte!“, ruft sie hinaus in den Gang. Beigebracht hat sich Sr. Maris Stella das Handwerk selbst. Im Kloster konnte sie viel üben, denn die Mitschwestern sind natürlich die treuesten Kundinnen. Und einmal haben schon ein Bischof und sein Sekretär unter ihren Händen Haare gelassen. Bischof Franz Zauner und Gottfried Schicklberger, als sie zur Erholung bei den Schwestern am Elmberg waren. Vor zwei Jahren hatte sie die Idee: Warum nicht hier im Vinzenzstüberl? Jeden Donnerstag, ab 14 Uhr.
Das Vinzenzstüberl
Das Vinzenzstüberl in Linz, Herrenstraße 39, ist eine Initiative der Hausgemeinschaft des Krankenhauses der Barmherzigen Schwestern vom hl. Vinzenz von Paul für Hilfsbedürftige. Der Name geht zurück auf den Gründer der Gemeinschaft der Barmherzigen Schwestern, den heiligen Vinzenz von Paul. Der Heilige lebte von 1581 bis 1660 in Frankreich. Er gilt als Patron aller Hilfsbedürftigen, aber auch aller in der Sozialarbeit Tätigen. Nicht nur Essen, sondern auch medizinische Betreuung und Beratung gib es hier, ebenso u.a. Unterstützung für ein Leben ohne Alkohol und Drogen. Geöffnet ist Montag bis Freitag, 13 bis 17 Uhr, Samstag und Sonntag, 8 bis 12 Uhr.