Wo sehen Sie die größten Veränderungen oder Herausforderungen seit dem Sozialwort? Johanna Strasser-Lötsch: Da ist zweifellos die durch die Pleite von Lehman Brothers (2008) ausgelöste weltweite Finanzkrise zu nennen, die sich dann zu einer massiven Wirtschafts- und Staatskrise entwickelt hat. In Europa wurde ein Rettungsschirm nach dem anderen aufgespannt, vor allem um die durch maßlose Spekulationen ins Wanken geratenen Banken zu retten. Wie ein Moloch liegt dieses Thema über allen anderen Fragen und bringt damit auch das europäische Sozialstaats-Modell und den übernationalen europäischen Zusammenhalt ins Wanken.
Was heißt das für das Fortschreiben des Sozialwortes? Ich kenne die Planung nicht, wie das Sozialwort nach der Phase der kritischen „Relektüre“ weiterentwickelt werden soll. Eines aber scheint mir dringend zu sein, dass die Kirchen die Finanzkrise und den damit verbundenen „entfesselten“ Finanzkapitalismus kritisch unter die Lupe nehmen – auch die Lösungen, die bisher versucht wurden und wo meines Erachtens die Finanzeliten die Politik vor sich hergetrieben haben. Ich erwarte mir da von den Kirchen Österreichs eine ebenso schonungslose Kapitalismuskritik, wie sie Papst Franziskus vorgelegt hat. Und ich erwarte mir auch, dass die Kirchen mit kritischen Netzwerken und Wissenschaftern gemeinsam nach alternativen Antworten suchen. Es darf nicht sein, dass eine Hypo-Alpe-Adria-Pleite mehr Aufmerksamkeit erregt als 450.000 Arbeitslose. Die Politik muss endlich wieder die Gestaltung der Lebenswelt übernehmen. Wie Menschen arbeiten und leben können, das ist kein Spielzeug für Spekulanten.
Viel Schatten. Aber auch neue Lichter