Es ist vor allem die Gewalt in der Familie, die Kinder und Jugendliche in El Alto dazu treibt, von zu Hause auszureißen und sich auf den Straßen der bolivianischen Stadt durchzuschlagen. Streetworker von „Maya Paya Kimsa“ helfen ihnen, von der Straße wieder wegzukommen.
Ausgabe: 2014/51, Streetworker, El Alto, Maya Paya Kimsa, Martin Berndorfer, Ruzena Moscoso, José Louis Salazar, Jhimmi Angel Quispe
16.12.2014
- Susanne Huber
Drei Häftlinge sind aus dem Gefängnis ausgebrochen. Die Polizei ist verstärkt unterwegs. Im Chinesenviertel von El Alto, wo Gestohlenes verkauft wird, ist man deshalb vorsichtig. Ein paar Ecken weiter, im Stadtzentrum „La Ceja“, herrscht lebhaftes Treiben. Zwischen Marktständen, Straßenverkäufern und Schuhputzern bahnen sich Autos und Kleinbusse, so genannte „Micros“, ihren Weg. An bestimmten Punkten treffen sich hier die Straßenkinder der Stadt. Auch sie sind wegen des Großaufgebots an Polizei nervös. Manche von ihnen lassen sich erst wieder blicken, als sich die Hüter des Gesetzes zurückziehen.
„Maya Paya Kimsa“
Jhimmi fällt Martin um den Hals, als er ihm begegnet. Dieser herzlichen Begrüßung folgt ein kumpelhafter Stups mit leicht geballter Hand auf den Oberarm, anschließend werden die Finger ineinandergehakt. Jhimmi lebt auf der Straße. Martin ist Sozialarbeiter. Der gebürtige Oberösterreicher ging 2002 mit seiner Frau nach La Paz. Ein Jahr später gründete er die Organisation „Maya Paya Kimsa“, um auf der Straße lebenden Kindern und Jugendlichen in El Alto eine Perspektive für die Zukunft zu bieten. Seither ist das Projekt gewachsen – dank der Unterstützung von Organisationen wie der Dreikönigsaktion, dem Hilfswerk der Katholischen Jungschar.
Feldarbeit
Um Kontakte zu den Straßenkindern zu knüpfen, schnappte sich Martin Berndorfer vor mehr als zehn Jahren einen Fußball und ging los. „Es ist wichtig, Vertrauen zu den jungen Leuten aufzubauen. Nur so kann es gelingen, sie dabei zu unterstützen und zu begleiten, dass sie entweder zu ihren Familien zurückkehren, dass sie in einem Heim unterkommen oder dass sie selbstständig werden. Es geht darum, eine Brücke zu schaffen von der Straße in eine bessere Lebensqualität“, erzählt der Sozialarbeiter. Beim Fußball- oder Volleyballspielen auf öffentlichen Plätzen werden die Jugendlichen motiviert, ins Tageszentrum von „Maya Paya Kimsa“ zu kommen. Dort gibt es die Möglichkeit für persönliche Gespräche und Betreuung, es kann gespielt werden, es sind Duschen, Toiletten und ein Gesundheitsraum vorhanden, in dem offene Wunden sterilisiert werden und wo jeden Mittwoch ein Arzt Ordination hält. Schlafplätze stehen nicht zur Verfügung und es wird auch kein Essen ausgegeben.
El Alto
Das klassische Bild von Straßenkindern gibt es in El Alto kaum. Die Stadt mit knapp einer Million Einwohnern liegt auf einer kargen Hochebene in 4150 Metern Höhe. Die Luft ist dünn, das Atmen fällt schwer und das Übernachten im Freien ist viel zu kalt. Deshalb schlafen die meisten betroffenen Kinder in Motels, den so genannten Alojamientos. Sie achten darauf, nicht zu auffällig zu sein, auch was die Kleidung betrifft, um nicht von der Polizei aufgegriffen zu werden. Geld für Unterkünfte und Bekleidung beschaffen sie sich mit Jobs wie Schuhe putzen oder mit Überfällen. Dementsprechend hoch ist die Kriminalität.
Armut
Insgesamt leben in El Alto 1300 Menschen auf der Straße, 40 Prozent davon sind Kinder und Jugendliche. In der schnell wachsenden Stadt siedeln sich vor allem Menschen aus den ländlichen Regionen an mit der Hoffnung auf Arbeit, die sich oft nicht erfüllt. Mehr als 70 Prozent der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze. 1988 ist die ehemalige Armensiedlung von La Paz zur Stadt erhoben worden. Die Straßen in das um 1000 Meter tiefer gelegene La Paz sind kurvenreich und steil, an den Hängen klebt ein Haus nach dem anderen. Je tiefer man kommt, desto milder wird das Klima und desto wohlhabender die Bevölkerung.
Jhimmi
Es ist eine Welt für sich, in welche die Streetworker von „Maya Paya Kimsa“ regelmäßig eintauchen. Eine Welt mit traurigen Geschichten, verbunden mit Leid, Gewalt und Sucht. Der 16-jährige Jhimmi Angel Quispe zum Beispiel wurde von seinem Vater ständig geschlagen. Als er das nicht mehr ertragen konnte, ist er von zu Hause ausgerissen und ging nicht mehr zur Schule. Er landete in der sexuellen Szene, ist HIV-positiv und schnüffelt Lösungsmittel. Das Schnüffeln betäubt und lässt kurzfristig den harten Alltag auf der Straße vergessen. Um sich durchzuschlagen, stiehlt er. Jhimmi war schon einmal in einem Heim. Doch es gab zu viele Regeln und so ist er wieder abgehauen. Seit längerer Zeit hat er Kontakt zu den Streetworkern von „Maya Paya Kimsa“. Jhimmi will wieder zur Schule gehen und erneut in ein Heim ziehen.
Langer Atem
Nur schwer können sich die Straßenkinder an geregelte Abläufe und Strukturen, wie sie in einem Heim üblich sind, gewöhnen. Das ist das große Problem. „Der begleitende Wechsel von der Straße in eine Einrichtung gelingt nur mit viel Einfühlungsvermögen, Vertrauen, Kontakt halten, intensiver Betreuung und einem langen Atem“, sagt die Sozialarbeiterin Ruzena Moscoso. Dass die Streetworker einen guten Draht zu den jungen Leuten auf der Straße haben, ist spürbar an den herzlichen Reaktionen, wenn sie aufeinandertreffen. Die Sozialarbeiter sind mit ihren ärmellosen blauen „Maya Paya Kimsa“-Jacken samt Ausweis gut erkennbar. Mit dabei haben sie immer einen Erste-Hilfe-Rucksack, um kleine Wunden zu versorgen und mit Salben zu „streicheln“.
José Luis
Armut gepaart mit Gewalt, Drogen- und Alkoholkonsum und soziale Vernachlässigung zählen zu den häufigsten Gründen, warum Kinder auf der Straße landen. So war es auch bei José Luis Salazar. Von Mutter und Stiefvater alleine gelassen, musste er sich schon als Kind selbst um sein Essen kümmern. Als er sich mit 12 Jahren den Arm gebrochen hatte, ging es für ihn nicht ins Spital – aus Geldmangel, so die Begründung seiner Mutter. Nach Gewaltattacken des Stiefvaters verbrachte José Luis mehr und mehr Zeit auf der Straße, bis er schließlich mit 13 Jahren gar nicht mehr nach Hause zurückkehrte. Zunächst arbeitete er für Minibusse und rief Ziel, Fahrtrichtung und Stationen aus. Er fand neue Freunde und rutschte mit ihnen immer tiefer in die Kriminalität ab, beging Diebstähle und fing an zu schnüffeln. Trotzdem gaben die Freunde auf der Straße mehr Halt als die eigene Mutter.
Geschafft
Als José Luis den Streetworkern von „Maya Paya Kimsa“ begegnete, kam es im seinem Leben plötzlich zu einer Kehrtwende. Der heute 17-jährige Bolivianer bat sie um Hilfe, weil sein Arm schmerzte. Die Betreuer begleiteten ihn ins Spital. Die langen Wartezeiten wurden für persönliche Gespräche genutzt und José Luis baute Vertrauen auf. Ihm wurde klar, dass er sein Leben ändern möchte. Das Team von „Maya Paya Kimsa“ stand ihm dabei zur Seite. Er machte einen Entzug, arbeitete untertags wieder als Bus-Ausrufer, ging abends in die Schule und holte seinen Abschluss nach. Derzeit ist er dabei, eine Computerausbildung zu absolvieren.
Vision
Die Arbeit bei „Maya Paya Kimsa“ verlangt viel ab. Die vielen tragischen Lebensgeschichten der Straßenkinder lassen nicht kalt, machen immer wieder aufs Neue betroffen. Doch ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl und der Wille und die Liebe zur Arbeit helfen, zu helfen. Das Team hat eine Vision: Eines Tages soll es keine Straßenkinder mehr in El Alto geben. Mit ihrer Arbeit sind sie auf dem besten Weg, dieses Ziel zu erreichen.
Sternsingeraktion 2015
Im Mittelpunkt der heurigen Sternsingeraktion stehen Projekte von Partnerorganisationen der Dreikönigsaktion in Bolivien. Mit den in rund 3000 Pfarren gesammelten Spenden setzen die 85.000 Sternsingerinnen und Sternsinger ein Zeichen gegen Armut und Ausbeutung. Jedes Jahr werden damit insgesamt 500 Projekte in Afrika, Asien und Lateinamerika finanziert und über eine Million Menschen unterstützt.
TV-Tipp zur Sternsingeraktion: „Hilfe unter gutem Stern – Gerechtigkeit und Schutz für Indiens Frauen“ am 1. Jänner 2015, 17.05 Uhr, ORF 2; am 3. Jänner 2015, 11.50 Uhr, 3sat.